hirnblutung :: die Sechste :: die Zusammenfassung :: Findet in der zeitgenössischen Kunst noch eine innovative Entwicklung statt?

Die letzte hirnblutung fand unter etwas ungewohnten Bedingungen statt. Da sich nämlich einige zufällig anwesende Gäste aus dem Ausland an der Diskussion beteiligten, führten wir das Gespräch so gut als möglich auf Englisch.
Überraschend fiel auch die Wahl des Themas aus, da keiner der im Netz gemachten Vorschläge eine Stimmenmehrheit auf sich vereinen konnte. Stattdessen wurde ein relativ spontan eingebrachter Vorschlag angenommen. Wahrscheinlich lag es an dieser Spontaneität, dass zu Beginn nicht immer ganz klar war, was denn genau die zu klärende Fragestellung sei. Nach einigen Präzisierungen verstand ich die Frage so: Aufgrund persönlicher Beobachtungen stellte sich für die Teilnehmerin, von der der Vorschlag kam, die Frage, ob es in der zeitgenössischen Kunst noch wirklich innovative und originär kreative Entwicklungen gibt, oder ob diese heutzutage nicht mehr stattfinden. Zur Veranschaulichung rekurrierte Sie darauf, dass es in der Kunstgeschichte immer wieder Entwicklungen und Strömungen gegeben habe, die grosse Umwälzungen oder Umbrüche im bestehenden Kunstbetrieb mit sich gebracht hätten. Wenn sie jedoch die zeitgenössische Kunst verfolge, dann stelle sie keine wirklich neuen Entwicklungen, sondern höchstens das Wiederholen und Rezyklieren früherer Strömungen fest. Bezeichnend hierfür sei die Tendenz, diese aktuellen Entwicklungen mit Präpositionen wie „Post-„ oder „Neo-„ zu versehen, wodurch sie in einen Bezug zu früheren, damals originären Bewegungen gesetzt werden. Durch diese Bezug nehmende Kategorisierungsweise wird zugleich festgestellt, dass die zeitgenössischen Bewegungen keine eigenen, sie selbst auszeichnenden Charakteristika aufweisen, was wiederum bedeutet, dass ihnen tatsächliche Innovation und Kreativität abzugehen scheint. Zugespitzt liesse sich daher die Frage formulieren, ob die Kunst an ihrem Ende angelangt sei bzw. ob die Kunst tot sei.
Gleich zu Beginn stellte ich fest, dass die Fragestellung als solche noch keine philosophische sei, sondern dass sie eher empirischer Natur sei, insofern als dass sie sich durch die Betrachtung und Analyse der zeitgenössischen Kunst beantworten liesse. Ihre Beantwortung könnte jedoch andere Fragen nach sich ziehen, die eher philosophisch sind.
Das ergab sich dann auch ziemlich bald, als es darum ging, sich darüber einig zu werden, was wir überhaupt damit meinen, wenn wir davon sprechen, dass Kunst innovativ und originär sei, oder eben nicht. Zunächst schien damit eine relativ extreme Auffassung gemeint zu sein, bei der das Neue einen radikalen Bruch mit den bestehenden Formen von Kunst beinhaltete. Innovative Kunst würde nach diesem Verständnis etwas von Grund auf Neues schaffen und dabei (möglichst) keinerlei Bezüge zu vorangehenden Strömungen aufweisen. Als Beispiel für einen solchen radikalen Bruch wurde Dada angeführt, von dem behauptet wurde, dass es seither in dieser Konsequenz kaum mehr Vergleichbares gegeben hätte.
An dieser Stelle wurde die Vermutung geäussert, dass sich künstlerische Innovation dem Prinzip des Regelbruchs verdanke. Neue künstlerische Trends würden sich dadurch kennzeichnen, dass sie bestehende Normen und Regeln in ihren Arbeiten gezielt brechen würden, was es ihnen erlaubte neue Formen und Stile zu entwickeln. Sofern man die künstlerische Innovation unter dieser Voraussetzung verstünde, könnte man weiter annehmen, dass sich die Möglichkeit zum Regelbruch irgendwann erschöpft haben wird, wenn einmal sämtliche Regeln gebrochen wurden. Sollte dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall gewesen sein, so hätten nachfolgende KünstlerInnen ein schweres Leben gehabt, da sie sich nicht mehr durch regelbrechende Innovation abgrenzen konnten.
Angesichts dieser eher trostlosen Zukunftaussichten für innovativ gesinnte KünstlerInnen kam die Frage auf, ob Originalität und Neuheit notwendige Eigenschaften für das Fortbestehen der Künste sind. An dieser Stelle wurde auf ältere Kunstauffassungen, beispielsweise jenes des Barock hingewiesen, bei denen Innovation noch keinen Wert per se darstellten und das Wiederverwenden und sogar das direkte Kopieren als anerkannte künstlerische Praxis gegolten habe. Eine vergleichbare Auffassung sei im arabischen Raum und in Asien heute noch anzutreffen.
Indem sich die „moderne“ Kunstauffassung somit als eine historisch bedingte erwies, stellte sich die Frage nach deren soziokulturellen Ursachen. Da die hohe Bewertung von Innovation und Originalität auch für die kapitalistische Güterproduktion kennzeichnend sind, wurde eine Korrelation der kapitalistischen Gesellschaft und des modernen Kunstbetriebs hergestellt. Dies wiederum führte dazu, dass aus einer kapitalismuskritischen Sicht die ursprünglich als positiv vorausgesetzte künstlerische Innovation hinterfragt wurde. Es blieb jedoch offen, was für ein Kausalverhältnis zwischen künstlerischer und kapitalistischer Innovation angenommen werden sollte – sofern es sich überhaupt um kausale Beziehungen handelt -, also, ob vielleicht nicht auch gerade die kapitalistische Produktion sich an der künstlerischen orientiert hat oder ob beide auf ein tiefer liegendes Bedürfnis reagiert haben (z.B: Authentizität und Individualismus). Im zeitgenössischen Kunstgeschehen sind die Kräfte und Mechanismen eines Marktes, der ständig nach Neuem und Sich-vom-Bisherigen-Unterscheidenden ruft, kaum zu übersehen und bestimmen zweifellos die Produktionsdynamik mit. Fraglich ist jedoch, ob dies für sämtliche Innnovationsbemühungen und auch schon während der letzten Jahrhunderte der Fall war, oder ob beispielsweise die in der Aufklärung proklamierte Autonomie der Künste eigenständige bzw. unabhängige Entwicklungsprozesse zugelassen hatte. Versteht man künstlerische Innovation als historische Weiterentwicklung der Kunst, so scheint sie zumindest schon länger stattzufinden, als es die kapitalistische Wirtschaftsform gibt. Eine Frage, die an dieser Stelle wohl ebenfalls erwähnt werden sollte, die aber während unserer Diskussion überhaupt nicht zur Sprache kam, wäre daher jene danach, inwiefern künstlerische Innovation sich weniger am Markt als an der Wissenschaft orientiert(e), also einem aufklärerischen Fortschrittsmodell verpflichtet sein könnte, das sich aus den Niederungen der primitiven Kunst zu immer höheren Entwicklungsstufen empor arbeitet. Diese Auffassung scheint zumindest über eine gewisse Zeitspanne der Kunstgeschichte wirksam gewesen zu sein und dient uns heute noch zur Deutung der Abfolge von gewissen Epochen in der Malerei. (So nach dem Motto: Je realistischer, desto besser.) Dabei würde es sich um ein alternatives Deutungsmodell zu jenem des permanenten Regelbruchs handeln. Und es böte mit dem Konzept der Vollendung ebenfalls eine Erklärung dafür, weshalb die Innovation zu einem Stillstand gelangen könnte.
Die Diskussion wandte sich stattdessen eher der Frage zu, weshalb es zu Innovation kommt und was man sich darunter eigentlich vorzustellen habe. Eine mögliche, jedoch nur am Rande gestreifte Begründung für die Entwertung des blossen Kopierens, könnte darin liegen, dass sich aufgrund neuer technischer Hilfsmittel (Fotografie, Druck etc.) gewisse Arbeiten leichter mechanisch reproduzieren liessen. Mit der seriellen Herstellbarkeit ging jedoch auch ein Verlust der Aura eines Werks (unter Umständen selbst beim Original) einher, was möglicherweise zu einer Aufwertung von Einzigartigem und Nochniedagewesenem führte.
Zur Beurteilung der Eingangs gestellten Frage versuchten wir nun, unser Verständnis von Innovation etwas zu präzisieren. Zunächst wurde nochmals auf das Modell der Deviation rekurriert, also dem bewussten Abweichen oder Brechen von bestehenden Normen der künstlerischen Tradition. Dieses Vorgehen scheint den Effekt des radikal Neuen am zuverlässigsten zu erzielen. Dabei stellt sich – wie oben erwähnt – jedoch die Frage, ob sich dieses Verfahren irgendwann zu Tode läuft, wenn es keine Gesetze und Normen mehr zu brechen gibt. Möglicherweise wurde dieser Zustand in gewissen Feldern der Kunst (beispielsweise der Literatur) erreicht, womit nicht bloss eine Erklärung, sondern womöglich auch eine Bestätigung für die eingangs festgestellte Beobachtung gefunden wäre. Eine solche Erschöpfung des Regelbruchs scheint sich ja auch im postmodernen „Anything goes“ zu artikulieren. Wo alles erlaubt ist, gibt es kaum mehr Optionen das Publikum mit Unerwartetem zu irritieren.
Um das Modell des Normbruchs noch etwas zu spezifizieren wurde darauf hingewiesen, dass selbst die sich noch so radikal und revolutionär gebärdenden DadaistInnen sich in ihren Aktionen und Pamphleten ganz klar von vorangehenden Bewegungen abgrenzten. Das hiesse, dass sich selbst die innovativsten und originärsten Entwicklungen immer vor einem historischen Hintergrund abzeichnen, zu dem sie sich in einen bestimmten Bezug setzen. Bei den revolutionären Entwicklungen würde sich dieser Bezug dann wohl primär als Negation kennzeichnen. Zieht man eine psychoanalytische Leseweise hinzu, dann lässt sich dieses Verhaltensmuster als Vatermord interpretieren (leider wieder mal völlig männerfixierte Perspektive).
Während viele künstlerische Bewegungen die Werke ihrer „Väter“ angreifen und sich ihnen gegenüber abgrenzen, scheinen sie zugleich häufig eine Affinität zu den älteren Arbeiten ihrer „Grossväter“ aufzuweisen. Damit wurde eine ganz andere Art der Bezugnahme in die Diskussion eingebracht. So wird in vielen künstlerischen Arbeiten sehr positiv auf frühere Werke Bezug genommen, beispielsweise indem sie stilistisch, formal oder inhaltlich auf sie rekurrierten und sie als Inspirationsquelle für ihr eigenes Schaffen verwendeten.
Diese positive Bezugnahme wurde daraufhin als mindestens gleichwertige künstlerische Methode gegenüber dem blossen Regelbruch betont, da sie zum einen eine Verbindung zu den genannten älteren Kunstauffassungen erlaubte, wo es noch eher um Kontinuität als um den Bruch mit der Tradition ging, zum anderen aber auch, weil er überhaupt erst so etwas wie künstlerische Tradition(en) ermöglicht, bei der sich Themen und Stile über Generationen fortsetzen und –entwickeln können.
Dann stellte sich jedoch die Frage, ob und inwiefern ein positiv-affirmativ Bezug nehmendes künstlerisches Arbeiten eine vergleichbare Innovation an den Tag legen kann, wie der sich negativ abgrenzende Normbruch? Läuft nicht gerade sie Gefahr, eben in der Wiederholung des Schon-Dagewesenen und im Rezyklieren verbrauchter Formen hinter dem Anspruch der Kunst zurück zu bleiben? Hier wurde erneut auf die Postmoderne verwiesen, jedoch weniger auf deren Theoreme als im Hinblick auf die als postmodern bezeichnete Kunst. Diese scheint sich nämlich in besonderem Masse auf Mittel und Techniken abzustützen, die frühere Werke durch Zerstückelung, Wiederholung (Sampling) und Neuarrangement (Collage) für eigene Arbeiten rezyklieren. Während diese Verfahrensweisen unbestritten zu innovativen Arbeiten führen können, scheinen sie doch Gefahr zu laufen, als reine Kunst-Kunst unter einer gewissen Blut- respektive Weltlosigkeit zu leiden.
Damit gelangten zwei weitere Gesichtspunkte in die Diskussion, die bisher etwas zu kurz kamen. Zum einen die Frage, welchen Ansprüchen die Kunst zu genügen hat und inwiefern die Innovation dabei eine Rolle spielt, zum anderen die Feststellung, dass sich die bisherige Diskussion vor allem um den kunstimmanenten Entwicklungsgang gedreht hat und dabei das gesellschaftlich-historische Umfeld der Kunst kaum berücksichtigte. Beide Aspekte hängen unmittelbar zusammen.
Denn die Forderung nach Innovation und Originalität scheint nicht zuletzt auch auf die Erwartung zurück zu gehen, dass die Kunst etwas mit der Welt zu tun hat, in der sie entsteht. Die Betrachtungsweise im Hinblick auf Regelbruch oder Traditionsfortsetzung scheint somit einen etwas eingeengten Blickwinkel aufzuweisen, da sie vor allem nach kunstimmanenten Mechanismen Ausschau hält, und dabei äussere, also kunstexterne Einflüsse vernachlässigt. Die Erwartung, dass sich zeitgenössische Kunst von älterer Kunst unterscheidet, hat aber nicht zuletzt damit zu tun, dass wir von ihr erwarten, dass sie sich mit der Gegenwart in allen ihren Dimensionen auseinandersetzt und in ihren Arbeiten auf sie reagiert. Oder anders formuliert: Sofern wir davon ausgehen, dass die Kunst sich in einer produktiven Wechselwirkung mit der Wirklichkeit befindet, unterzieht sie sich genauso wie diese einem historischen Wandel – um nicht zu sagen, einer Entwicklung. Das wiederum bedeutet, dass selbst da, wo man sich dafür entschliessen würde, die stilistischen Formen und technischen Mittel vergangener Zeiten beizubehalten, eine Veränderung in den Werken unvermeidbar wäre, sofern die Kunst einen inhaltlichen Bezug zur Gegenwart beibehielte. Somit kann also selbst das bloss Wiederverwenden und Rezyklieren (von Formen, Stilen und Techniken) zu innovativen Resultaten führen.
Bei näherer Betrachtung wird zudem klar, dass sich die Veränderung der historischen Umwelt der Kunst nicht bloss inhaltlich, sondern in jeder Hinsicht auf die künstlerische Praxis auswirken wird. Dies wird vor allem bei den gewählten Mitteln, Methoden und Techniken der Künste deutlich. Wo sich die Technologien einer Gesellschaft weiterentwickeln, eröffnen sich auch neue oder veränderte Betätigungsfelder für die Künste. Ein nahe liegendes Beispiel hierfür wären die Entwicklungen im Bereich der Neuen Medien, wo sich neuere und teilweise revolutionär anmutende Projekte, Stile und Genres innerhalb von wenigen Jahren herausgebildet haben. Dabei finden möglicherweise Normbrüche und Neuerfindungen statt, deren Stellenwert wir noch gar nicht gebührend einschätzen können. Hier liesse sich also der Ausgangsfrage mit einer Gegenfrage antworten: Ist das Publikum schon so weit, die veränderten Produktionsweisen und innovativen Kunstformen der Gegenwart als solche wahrzunehmen oder sucht es sie immer noch – vielleicht vergeblich – in den allzu traditionellen Schauplätzen und mit nicht mehr zeitgemässen Erwartungshaltungen?
Aufgrund dieser näheren Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen, die in die künstlerische Produktion einfliessen, konnten wir abschliessend festhalten, dass sich die eingangs gestellte Frage in ihrer Pauschalität kaum bejahen lässt. Die Kunst ist mit grosser Wahrscheinlichkeit auch heute noch innovativ und bringt originäre Werke hervor, dafür zeichnen einerseits die ökonomischen wie auch die gesellschaftlich-historischen Rahmenbedingungen verantwortlich, wobei letztere sowohl nicht bloss zu thematischen Verschiebungen, sondern auch über technische Innovationen zu Veränderungen der Produktionsbedingungen von Kunst führen.

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