Der Lieblingsfeind

Macher und Deuter im Streit.

Geisteswissenschaften sind Deutungswissenschaften; darin liegen ihr Glanz und ihr Elend. Nicht der Philosoph, sondern der Ingenieur baut die Maschine; aber der Philosoph erklärt, was eine Maschine ist und wie sie sich zum Menschen verhält. Der Physiker entwirft die Atombombe, aber der Politologe sagt, welches die Konsequenzen für die Staatenwelt sind. Der Biologe entwickelt die Gentechnik; aber nur Soziologen oder Theologen können zeigen, was dies für die Identität des Individuums bedeutet. Politiker machen Geschichte, aber erst der Historiker entdeckt das Muster, nach dem sie gehandelt haben.Die Geisteswissenschaftler geben den sprachlosen Naturwissenschaften eine Sprache und der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst. Man könnte auch sagen: Alle Neuerungen (und mehr noch: alle Vergangenheit) werden erst durch ihre Tätigkeit begreifbar und politisch wirksam. An dieser Deutungsmacht liegt es, wenn Geisteswissenschaftler bewundert oder angefeindet werden. Sie sind recht eigentlich das, was man in der Umgangssprache als Intellektuelle bezeichnet und zu manchen Zeiten als moderne Priesterkaste verteufelt hat. Und in der Tat: Philosophen haben Revolutionen angezettelt (wie Marx), Historiker bei ethnischen Säuberungen geholfen (wie auf dem Balkan), Literaturwissenschaftler vielen Diktaturen gedient (wie dem Hitlerreich oder der DDR). Moralisch gesehen sind Geisteswissenschaftler unzuverlässige Gesellen, auch wenn sie zuzeiten durchaus die politische Moral befördert haben (wie die Soziologen, die hinter der Apo standen). Sie sind aber selbst dort, wo sie Tyrannen förderten, niemals lange gern gesehen, oft schon bald liquidiert worden. Für totalitäre Regime gilt bis auf den heutigen Tag: Der Intellektuelle ist ihr Lieblingsfeind.Geisteswissenschaftler sollten daher nicht klagen, wenn ihnen öffentliche Ablehnung entgegenschlägt oder Fördermillionen ausbleiben. Der Widerstand bei Politikern oder Machern der Wirtschaft zeigt nur, dass sie ihre Arbeit getan und Kritik geleistet haben. Denn Kritik (ob an historischen Quellen, Ideologien oder ganz allgemein an falschen Selbstverständlichkeiten) ist der Kern ihrer Arbeit. Der Geisteswissenschaftler verliert erst dann seine Berechtigung, wenn er vom kritischen Intellektuellen zum reinen »Brotgelehrten« mutiert, wie ihn Schiller karikiert hat. Der Brotgelehrte, dem es nur um soziale Akzeptanz, um Drittmittel und Karriere zu tun ist, kann in anderen Fächern etwas leisten – für die Geisteswissenschaften bedeutet er den Ruin. Das ist die Gefahr, die in den Rufen nach einer Effizienzkontrolle liegt: dass sie den Opportunisten auf Kosten des Intellektuellen fördert.

© DIE ZEIT, 25.01.2007 Nr. 05

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