Damit der Text nicht wieder ausufert, komme ich gleich zur Sache. Zur Auswahl standen zwei Themen. Zum einen die Frage, warum der Staat bzw. die Gesellschaft tödlich kranken sterbewilligen Menschen von Behördenseite her keine geregelte Unterstützung leistet, sondern diese eher zu verhindern versucht. Die zweite Fragestellung war jene nach der Möglichkeit von Lebensbereichen, die sich der totalen Ökonomisierung unserer Lebenswelt entziehen respektive ihr widerstehen können. Wobei zugleich auch als möglicher Kandidat für einen solchen Bereich die Liebe ins Spiel gebracht wurde. Die Abstimmung ergab ein grösseres Interesse für die zweite Frage.
Die Problemlage lässt sich ungefähr so fassen: In der Folge des neoliberalen Siegeszuges scheint sich in sämtlichen Handlungsbereichen unseres Lebens ein Denken und Handeln zu etablieren, dass sich nach ökonomischen Kriterien ausrichtet, wofür wir im Gespräch dann auch den Ausdruck „ökonomische Logik“ verwendeten. Dieses Denken orientiert sich an Kosten/Nutzen-Rechnungen und Güterabwägungen, an Strategien der Effizienzsteigerung und Profitoptimierung, an Angebot- und Nachfrageevaluationen, wie man sie in der Wirtschaft kennt und wie sie im Modell des homo oeconomicus postuliert werden. Wesentlich für die Problemstellung ist nun jedoch, dass dieses Denken sich zunehmend auch auf jene Lebensbereiche auszudehnen scheint, in denen es bisher keine Geltung hatte, bis es schliesslich unser gesamtes Entscheiden und Handeln durchdringt. Die positiven Auswirkungen dieser Entwicklung bestehen darin, dass wir unsere Ziele unter Umständen tatsächlich effizienter verfolgen, die negativen darin, dass unser Handeln von der berechnenden Kälte des Vernunftkalküls bestimmt wird, dass wir andere Menschen zu blossen Mitteln instrumentalisieren und dass wir uns insgesamt egoistischer verhalten. Diese Feststellung wurde in der Diskussion vorausgesetzt, um die Frage danach aufzuwerfen, ob es so etwas wie Nischen oder utopische Orte jenseits der ökonomischen Vernunft gibt und ob die Sphäre der Liebe allenfalls eine solche Nische darstellen könnte oder eben nicht.
Es stellte sich zunächst einmal die Frage, weshalb sich gerade die Liebe hierfür eignen sollte. Die naheliegende Antwort lautete, dass in Liebesbeziehungen diesbezüglich eine Art Tabu zu bestehen scheint. Es ist verpönt, das Geben und Nehmen innerhalb einer Beziehung unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten, vielmehr besteht das anzustrebende Ideal gerade darin, selbstlos etwas geben zu können/wollen, ohne eine gleichwertige Erwiderung zu erwarten. Exemplarisch wurde hierfür die liebende Mutter genannt, die von ihrem neugeborenen Kind nur sehr wenig erwarten kann, sich ihm aber trotzdem mit Hingabe widmet. Aber auch in Freundschaften besteht das Ideal, gerade auch dann füreinander da zu sein, wenn sich die eine der beiden Personen in einer Notlage befindet, also das ihr Gegebene nicht (sofort) wiedergutmachen kann. Wenn in Liebesbeziehungen die nüchterne Berechnung und das gegenseitige Aufwiegen von Wohl- und Missetaten ins Spiel kommen, steht es häufig schon nicht mehr zum besten für die Beziehung. Zwar wird diese sachliche Betrachtungsweise von vielen Beziehungsberatern immer wieder empfohlen, aber sie scheint sich trotzdem mit unseren romantischen Vorstellungen von Liebe nicht ganz zu vertragen. Offenkundig ist es also vor allem der romantische Liebesbegriff, der als Opposition zum ökonomischen Kalkül betrachtet werden kann. Wir überlegten uns daher, inwiefern vielleicht schon der historisch von der Romantik geprägte Liebesbegriff als ein expliziter Gegenentwurf zur Nüchternheit und Kälte des Vernunftkalküls der Aufklärung zu verstehen ist. Dies würde zumindest auch mit der romantischen Betonung des Gefühls zusammen passen. Dass es sich bei der Liebe um ein Gefühl handelt, ist schliesslich einer der stärksten Gründe dafür, dass sie sich einer rationalen Berechenbarkeit entziehen könnte. Gefühle nehmen gemeinhin immer noch einen Status von etwas ein, das sich letztlich nicht mit Vernunftgründen abschliessend erklären lässt. Sollte diese Vermutung des romantischen Ursprungs zutreffen, würde dies auch eine andere Annahme stützen, nämlich jene, dass sich die ökonomische Logik nicht erst mit dem Neoliberalismus auszubreiten beginnt, sondern dass sie in gewisser Weise schon immer vorhanden war, dass sie sich aber historisch betrachtet zunehmend in neue Lebensbereiche ausdehnt. So auch schon zur Zeit der Romantik, die ja mit der Entfaltung des Kapitalismus einhergeht. Daher liesse sich behaupten, je umfangreicher ihr Geltungsbereich wird, desto expliziter und bewusster werden ihre Prinzipien und Mechanismen.
Wenn die Liebe also tatsächlich schon in der Romantik als theoretisches Gegenkonzept zur ökonomischen Vernunft entwickelt wurde, dann wäre nachzufragen, ob und wie sich diese Konzept in der Realität bewährt hat. Und es stellt sich die Frage, inwiefern das postulierte Ideal sich als Illusion erweist, die auf einem Selbstbetrug basiert. Leider fehlten uns zur angemessenen Beurteilung dieser Frage hier die historischen Kenntnisse und wir waren auf unsere eigenen Erfahrungen angewiesen, die zumindest nahelegten, dass das romantische Liebesmodell nach wie vor wirksam ist.
Die Frage nach dem illusorischen Charakter der Liebe hängt mit einer anderen zusammen, zu der wir auch wiederholt gelangten und die sich in etwa folgendermassen formulieren lässt: Ist die Orientierung an der ökonomischen Logik etwas Natürliches oder eher eine zivilisatorische Entfremdungs- oder Degenerationserscheinung? Die Schwierigkeit dieser Frage besteht darin, dass sie den ganzen Rattenschwanz der Natur-Kultur-Diskussion nach sich zieht, die wir an dieser Stelle nicht wirklich miterörtern wollten. Um deren Unwägbarkeiten zu umgehen wurde zum Vergleich nicht auf Tiere, sondern auf kleine Kinder verwiesen, deren Handlungsweise im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen von Ehrlichkeit und Geradlinigkeit gekennzeichnet sei. Demgegenüber scheinen die von ökonomischem Kalkül geleiteten Erwachsenen eher zum Lügen und zu falschen Freundlichkeit zu neigen. Dies liesse darauf schliessen, dass es sich bei der ökonomischen Logik um eine zivilisatorische Deformation unserer Persönlichkeit handelt. Dem lässt sich jedoch zweierlei entgegen halten. Zum einen, dass Kinder ihre Ziele meistens auch sehr zielstrebig verfolgen, zum anderen, dass das unehrliche Verhalten von Erwachsenen ja nur die Aussenwelt betrifft und zugleich eine unverhohlene Betrachtung der eigenen Ziele voraussetzt, was so viel heisst wie, dass gerade die ökonomische Logik auch eine gewisse Ehrlichkeit mit sich selber voraussetzt. Selbst wenn man also das Lügen als eine zivilisatorische „Unnatürlichkeit“ betrachtet, muss diese nicht die unmittelbare Folge der ökonomischen Logik sein. Damit bleibt offen, ob die ökonomische Logik selber als widernatürlich einzuschätzen ist. Stattdessen bietet sich sogar eine beinahe entgegen gesetzte Interpretation an.
Fasst man den Begriff der ökonomischen Logik etwas weiter, lässt er sich mit einem Prinzip mit universeller Geltung zur Deckung bringen, nämlich jenem der instrumentellen Vernunft (Wahrscheinlich liesse sich ebenso gut von strategischer, funktionaler, pragmatischer oder zweckrationalen Vernunft sprechen). Deren höchstes Ziel besteht darin, ihren eigenen Fortbestand zu sichern, sie steht somit im Dienst des biologischen Überlebens. Die ökonomische Logik wäre bloss die radikale Ausdifferenzierung dieser instrumentellen Vernunft. So betrachtet würde es sich also bei der ökonomischen Logik um die „natürlichste“ Sache der Welt handeln. Bloss wäre das, was man unter Natur versteht, weniger idyllisch als die rousseausche Unverfälschtheit unverdorbener Kinder.
Die romantische Liebe würde sich dann in einem veränderten Licht darstellen. Sie könnte dann als bewusster Versuch verstanden werden, dieser so selbstverständlichen und natürlichen instrumentellen Vernunft etwas entgegen zu setzen, das ihre prosaische Zweckmässigkeit in den Dienst von etwas Höherem stellen würde, etwas, das den rein biologischen Zweck des Überlebens „verklären“ könnte. So betrachtet liesse sich die Liebe als eine kulturelle Leistung (und nicht Degeneration) gegenüber dem blossen Naturinstinkt auffassen. Geht man davon aus, dass die Liebe in ihrer natürlichen Form allein auf die unmittelbare Befriedigung von sinnlicher Lust abzielt, dann würde es sich bei dem psychischen Gefühl der romantischen Liebe um eine sublimierte Form dieses natürlichen Triebes handeln. Entsprechende Hinweise liefert ja auch die Psychoanalyse.
Skeptische und kritische Beobachter wie Freud oder Bourdieu werden dann jedoch einwenden, dass es sich dabei leider um eine Illusion handelt, da hinter der Fassade der romantischen Verhaltensideale nach wie vor die Mechanismen der ökonomischen Vernunft wirksam sind. Der einzige Unterschied bestünde darin, dass die Handelnden sich dessen nicht mehr bewusst sind. Die romantischen Ideale wäre so etwas wie notwendige Illusionen, deren Wirklichkeitsanspruch aber einer genaueren Betrachtung nicht standhalten könnte. So würden selbst so extreme Fälle wie die selbstlose Mutter oder der aufopferungsvolle Freund durchaus von ihren Handlungen profitieren, z.B. indem sie mit hoher sozialer Anerkennung honoriert würden. Und jene Ausnahmen, bei denen dies nicht der Fall sei, dienten gerade dem Zweck die Illusion aufrecht zu erhalten. Zudem würde ja gerade die fortschreitende Ökonomisierung unseres Denkens und Handelns auch vor der Liebe nicht halt machen, weshalb heute auch in Beziehungsfragen ökonomische Überlegungen und Abwägungen viel unumwundener zum Tragen kommen. Als illustrierendes Beispiel wurde der französische Schriftsteller Michel Houellebecq genannt, der derlei Prozesse im Feld der Liebesbeziehungen in seinen Romanen beschreibt und analysiert.
Gegenüber dieser skeptischen Position, die an der Annahme einer Lüge festhält, lässt sich jedoch die Frage stellen, ob die entlarvten Ideale nicht im Moment, wo man nicht mehr bloss an sie glaubt, sondern auch nach ihnen handelt, eben doch Wirklichkeit werden, also ihren bloss illusorischen Charakter verlieren. Schliesslich ist es ja so, dass sie zu tatsächlichen Auswirkungen in der Welt und im Leben führen. Um dies am Beispiel der Liebe auszuführen, lässt sich auf die verschiedenen konkreten Erfahrungsmomente hinweisen, die die Liebe kennzeichnen und die darauf hindeuten, dass sie durchaus als utopischer Ort jenseits der ökonomischen Logik funktioniert und als solcher erlebt wird. So wurde in der Diskussion auf die veränderte Zeitwahrnehmung in Liebesbeziehungen hingewiesen, bei der die vorherrschende Wahrnehmung der Zeitknappheit aufgehoben zu sein scheint. Ähnliche Phänomene sind die Bereitschaft zur Verschwendung und zum Ausserachtlassen der Zukunft. Ein interessanter Anknüpfungspunkt bot hier die Wiederaufnahme der Gegenüberstellung von erwachsenem und kindlichem Verhalten. So lässt sich in Liebesbeziehungen ja auch häufig eine Regression in kindliche Verhaltensweisen beobachten. Da Regression primär die Regression der psychischen Ich-Instanz bedeutet und diese sich wiederum als eine dem biologischen Überleben dienende psychische Funktion auffassen lässt, die zwischen Realität und Wünschen zu vermitteln hat, so läuft ihre regressive Auflösung tatsächlich auf die Aufhebung der ökonomischen Logik hinaus. Denn die Ich-Instanz bedient sich bei der Sicherstellung ihrer Funktion eben dieser Logik und nur, wo es eine Ich-Instanz gibt, kann sie überhaupt zur Anwendung gelangen. Indem die Liebesbeziehungen zur Aufgabe des Ich führen können, scheint es ihnen also tatsächlich zu gelingen, den Zwängen der instrumentellen Vernunft zu entkommen. Ähnliche Erfahrungsperspektiven scheinen sich ja auch in der Mystik abzuzeichnen, wo die Auflösung des eigenen Ich ebenfalls ein zentrales Anliegen ist. Und auch hinter der Einnahme von Drogen scheinen diese Motive zu stehen.
Da die Ich-Instanz dem Zweck des Überlebens zugeordnet werden kann, ist es nicht weiter erstaunlich, dass ihr Verlust mit grossen Ängsten verbunden ist, und dass Handlungen, die auf die Ich-Auflösung hinauslaufen, von der Gesellschaft mit Skepsis begleitet werden. Gerade bei Drogen scheint die Gefahr relativ gross zu sein, dass die Rückkehr zum funktionierenden Ich erschwert oder verunmöglicht wird. Daher stellt sich die Frage nach dem Stellenwert, den man solche Unternehmungen beimessen will.
Im Kontext der Ausgangsfrage lässt sich Folgendes festhalten: Wenn wir die Verallgemeinerung der ökonomischen Logik zur instrumentellen Vernunft vollziehen, dann lassen sich alle jene Nischen als jener vermisste utopische Orte jenseits der ökonomisch strukturierten Zweckrationalität eingrenzen, bei denen es zu einer zumindest partiellen Ich-Auflösung kommt. Neben der Liebe, der Mystik und Drogen müssten dann wohl auch noch moralische Ideale (Über-Ich: Gerechtigkeit, Weisheit, Güte etc.) und soziale Kollektive (Nation, Fussballverein, Familie, Firma etc.) erwähnt werden.
Dann bleibt jedoch unbeantwortet, wie diese Erfahrung zu interpretieren ist. So liesse sich beispielsweise die skeptisch aufklärerische Argumentationslinie weiter führen, indem man die Regression letztlich auch in den Dienst des Ichs stellen würde. Vergleichbar den Ferien oder dem Karneval, wo die normalerweise geltenden Gesetze auch temporär ausser Kraft gesetzt sind, jedoch bloss, damit sich die unteren Schichten von der Mühsal des Alltags erholen und ihm dann auch wieder genügen können. Dieser Standpunkt würde die Ich-Regression nur als Mittel zu einem anderen Zweck betrachten, womit sie wieder der ökonomischen Logik unterstellt und möglichst selten zuzulassen wäre. Dem gegenüber würde die romantische Interpretation darauf insistieren, dass die Ich-Regression ein volllwertiger Selbstzweck ist, dem gegenüber die Ich-Funktion bloss eine Ermöglichungsedingung darstellt. Wobei die romantische Position wohl kaum den Begriff der Ich-Regression als solchen stehen lassen könnte, sondern ihn wohl viel eher als Transgression bzw. dialektisch als Aufhebung des Ichs auf einer höheren Ebene und in einer übergeordneten Einheit betrachten würde. Es ist naheliegend, dass je nach Auffassung relativ unterschiedliche Bewertungsmässstäbe und Umgangsweisen mit diesen Phänomenen abgeleitet werden können.