hirnblutung :: die Fünfte :: die Zusammenfassung :: Wie steht es um die Autonomie der Kunst?

Zu meiner Freude sind letzten Mittwoch wieder einmal etwas mehr Leute erschienen, was zu einer relativ bunten Mischung von TeilnehmerInnen führte. Zur Diskussion standen zwei respektive drei Themen. Zum einen gab es meinen schon im Netz platzierten Vorschlag über das Konzept der Kunstautonomie zu diskutieren. Dann wurde die Frage eingebracht, ob sich der Mensch durch irgend ein Merkmal (beispielsweise so etwas wie eine Seele) in einer Weise von der übrigen Natur unterscheidet, dass er sich von ihr fundamental bzw. qualitativ und nicht bloss graduell abhebt. Der dritte, jedoch wieder zurück gezogene Vorschlag wollte der Frage nachgehen, wie die Menschheit mit ihren Ressourcen umzugehen habe, insbesondere mit Wasser und Öl. Das wie immer hochkomplexe Abstimmungsprozedere ergab einen knappen Entscheid zugunsten meines Vorschlages. Ich hatte ihn im Vorfeld schon formuliert und zitiere ihn daher hier nochmals:

„Wie steht es um die Autonomie der Kunst?

Der erwähnte aktuelle Anlass besteht darin, dass Philipp Meier, Direktor des Cabaret Voltaire, implizit mit der Kündigung gedroht wurde, da er in seinem Haus wiederholt allzu ‚provokativen’ künstlerischen Arbeiten Raum geboten hat. Die Hirschhorn-Affäre um die Pro Helvetia-Stiftung wirft jedoch im Prinzip dieselben Fragen auf.
In der Bundesverfassung ist die Autonomie der Kunst ausdrücklich festgehalten, mit der die Kunst insbesondere von vorschnellen politischen und moralischen Beurteilungen enthoben und ihr Anspruch auf ihr eigene Qualitätskriterien zugestanden wird. Mit der gegenwärtigen ökonomischen Durchdringung der Kunstszene hin zu einem blossen Kunstmarkt bei gleichzeitigem Rückzug der öffentlichen Hand aus der Kunstförderung stellt sich jedoch die Frage, was von dieser Autonomie letztendlich noch bleibt. Die auf den Markt abzielende Produktion läuft mittelbar wieder auf das Konzept der Auftragskunst hinaus, indem sie in voraus eilendem Gehorsam die Massstäbe der Sammlerinnen (Gefälligkeit, Dekorativität, Fertigkeit etc.) verinnerlicht. Damit bleibt kaum mehr Platz für sperrige, kritische oder von der Form her schlecht verkäufliche Kunst. Wer, wenn nicht die öffentliche Hand, ist also dafür zuständig, dass die in der Verfassung verbriefte Freiheit der Kunst nicht bloss auf dem Papier sondern auch in der Praxis gewährleistet und gefördert wird? Und wie weit soll und darf diese Freiheit gehen und wann darf sie von politischer Seite beschnitten werden? Wozu gibt und braucht es eigentlich die Autonomie der Kunst?“

Die Bundesverfassung findet man übrigens hier und der entsprechende Artikel lautet in all seiner Kürze: Art. 21 Kunstfreiheit. Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet.

Zum aktuellen Anlass lässt sich mittlerweile nachtragen, dass Philipp Meier befristet bis Ende April 2008 weiter als Direktor amtet.
Da unsere Diskussion schon wieder einige Tage zurück liegt und ich mir keine Notizen gemacht hab, werde ich die Auseinandersetzung gemäss meiner Erinnerung wiedergeben und versuchen mich auf die zentralen Argumentationslinien zu konzentrieren.

Gleich zu Beginn wurde ein deutliches Votum zugunsten der Kunstfreiheit abgegeben. Kunst müsse eine gewisse Autonomie beanspruchen, da ihre Aufgabe eben auch gerade darin bestünde, bestimmte Normen und Grenzen einer Gesellschaft auszuloten und in ihrer Geltung zu hinterfragen. Damit sie dies unbehelligt tun könne, müsse sie von der Anwendung der herrschenden Gesetze und Moralprinzipien ausgenommen werden.

Gegen diese befürwortende Position wurde jedoch bald einmal eingewandt, dass Kunst, sofern sie ihr Publikum erreicht, immer eine Wirkung ausübe. Und diese Wirkung könne unter Umständen relativ intensiv und nachhaltig sein, weshalb gewisse „destruktive“ Kunst einem auch schaden könne. Gerade weil Kunst teilweise eine sehr tiefgreifende Wirkung ausübe, müssten sich Kunstschaffende ihrer hohen Verantwortung bewusst sein und dürfen nicht alles tun, was ihnen beliebt.

Ein weiterer Einwand warf die Frage auf, bis wohin die Kunstautonomie denn reichen solle, sofern man sie einmal anerkennen würde. So schien uns allen einzuleuchten, dass beispielsweise die im Cabaret Voltaire durchgeführten Aktionen fraglos die Kunstautonomie für sich beanspruchen könnten, während sich zugleich ein Konsens abzeichnete, dass ein Mord im Kontext der Kunst weiterhin illegitim wäre. Es stellte sich somit die Frage, welche sozialen Regeln und Normen die Freiheit der Kunst überwog und von welchen sie ihrerseits überwogen wurde.

Es zeigte sich, dass zur Erörterung der Frage, inwiefern gewisse Objekte oder Handlungen die Autonomie der Kunst für sich in Anspruch nehmen konnten, vorweg geklärt sein musste, ob es sich dabei jeweils überhaupt um Kunst handelt. Wie entscheiden wir, ob wir einer normbrechenden Handlung den Status einer künstlerischen Aktion zugestehen wollen? Ein Vorschlag ging dahin, die (künstlerische) Intention der handelnden Person als Kriterium zu betrachten. Das entspräche zumindest der gängigen Praxis zur Beurteilung von Handlungen. Da es jedoch strittig ist, ob der Rekurs auf die Intention als Unterscheidungsmerkmal von Kunst und Nichtkunst wirklich taugt, haben wir versucht diese Problematik beiseite zu lassen, indem wir für die Diskussion davon ausgingen, dass diese Frage jeweils schon geklärt wäre.

Wir versuchten daher weiter der Frage nachzugehen, worin die Kunstautonomie ihre Begründung findet. Zunächst einmal wurde festgehalten, dass die Begegnung mit Kunst von einer anderen Art und Weise ist als beispielsweise das Fernsehen. Die Betrachtung von Kunst scheint partizipativer und interaktiver zu sein und von der Betrachterin auch ein bestimmtes Entgegenkommen zu erfordern, ohne welches die Kunsterfahrung nicht wirklich zustande kommen kann. Das warf die Frage auf, weshalb jemand diesen Mehraufwand gegenüber dem passiven Konsumieren betreiben und sich diese Anstrengung antun sollte. Die Antwort auf diese Frage blieb relativ lange im Unklaren, schliesslich wurde jedoch ein Vorschlag gemacht, der die Freiheit der Kunst mit der Erfahrung von Freiheit in Zusammenhang brachte. Denn wenn man sich einmal auf die Kunst eingelassen habe, würde diese einem neue Erfahrungen ermöglichen, die es wiederum erlaubten, von bisher geteilten Massstäben und Normen einen gewissen Abstand zu gewinnen. Das heisst, indem sich die Kunst gewisse Freiheiten gegenüber den herrschenden Normen herausnimmt und indem sich die KunstbetrachterInnen auf diese Grenz(überschreitungs)erfahrung einlassen, gewinnen diese somit selbst eine neue Freiheit gegenüber den herrschenden Normen. Die Kunstautonomie würde sich damit auf den abgezirkelten Bereich eines Spiel- und Experimentierfeldes erstrecken, in dem sie denjenigen, die sich auf die Kunst einliessen, eine Freiheitserfahrung ermöglicht. Diese Freiheitserfahrung wiederum erlaubte es einem, sich von alten Normen zu lösen und neue auszuprobieren. Hierzu wurde ergänzt, dass die Autonomie der Kunst nicht gleichbedeutend mit Gesetzlosigkeit oder einer absoluten Aufhebung von sämtlichen Normen sei, sondern dass die Kunst ihre eigenen Massstäbe den ausserästhetischen Normen entgegen setzen würde. Schliesslich bedeutet der Begriff Autonomie etymologisch ja soviel wie „Selbstgesetzgebung“.

Dieser ziemlich positiven Einschätzung der Wirkungsmöglichkeiten von Kunst stand jedoch weiterhin die kritische Position entgegen, die auf dem destruktiven Potential gewisser Kunstwerke beharrte. Da diese Einschätzung von einigen TeilnehmerInnen geteilt wurde, stellte sich die Frage, wie dieser Befund einzuordnen sei. Der naheliegendste Weg, das Problem zu umgehen, bestand darin in Frage zu stellen, ob es sich bei den angeführten Beispielen (z.B. Filmen) auch tatsächlich um Kunst im engeren Sinn handelt. Daraufhin wurde jedoch auch explizit auf gewisse Kunstaustellungen verwiesen, bei denen die Problematik zudem noch dadurch verschärft sei, dass sie im Gegensatz zu Filmen keine Altersempfehlungen aufwiesen. Dem wurde jedoch entgegen gehalten, dass es neben der Verantwortung der KünstlerInnen eben auch die Verantwortung der BetrachterInnen gebe, die sich anhand der Ankündigungen schon ein erstes Bild davon machen könnten, was sie erwartet, und aufgrund dessen selber entscheiden könnten, ob sie sich auf diese Kunsterfahrung einlassen wollten oder nicht. Zudem wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Schmerztoleranz hinsichtlich von Kunstwerken in vergleichbarer Weise variiert wie der individuelle Geschmack. Daran anschliessend liesse sich sogar argumentieren, dass gerade die Erfahrung von Kunst dazu führen kann, „falsche Empfindlichkeiten“ in Form von ästhetischen Vorurteilen abzubauen.

Diese Bemühungen der Kunst ihr Potential zum Negativen zu nehmen, konnten jedoch an der fundamentalen Feststellung nichts ändern, dass Kunst jemanden auch schädigen kann. Wohl gerade wenn man an ihrer befreienden Wirkung festhalten will, scheint man nicht um das Zugeständnis herum zu kommen, dass diese Befreiung zu weit gehen und ins Negative umschlagen kann. Bei gewissen Normen scheint selbst ihre provisorische Aufhebung zu drastische Konsequenzen nach sich zu ziehen. Eben weil man sich auf die Kunst einzulassen hat, birgt sie auch die Gefahr einen überdurchschnittlich zu enttäuschen oder sogar zu verletzen.

Die Synthese aus den voran gehenden Betrachtungen lief darauf hinaus, dass Kunst zwar durchaus ein negatives Wirkungspotential aufweist, dass man dieses vergleichsweise geringe Risiko jedoch durchaus abschätzen kann und in Kauf nehmen sollte angesichts der positiven Erfahrung von Freiheit, die sie auch ermöglicht. Es scheint jedoch keine universellen Standards der Kunstverträglichkeit zu geben, weshalb jeder und jede darauf angewiesen ist, für sich selbst herauszufinden, wo die Grenzen des Zumutbaren liegen. Problematisch wäre es jedoch, aus den eigenen Erfahrungen allgemeingültige Massstäbe ableiten zu wollen, da die Verhältnismässigkeit nicht zuletzt vom jeweiligen Geschmack abhängt, der sowohl individuell wie sozial geprägt ist.

Damit schien sich abzuzeichnen, dass der Autonomie der Kunst sowohl eine kunstimmanente Grenze des ästhetisch Zumutbaren wie auch eine äusserliche Grenze des politisch und moralisch Tolerierbaren gesetzt werden kann, wobei sich diese Grenzen teilweise auch decken mögen. Da die Grenzsetzungen nicht eindeutig und bis zu einem gewissen Grad relativ sind, scheinen sie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene immer wieder von neuem ausgehandelt werden zu müssen, wofür die oben genannten Konfliktfälle jeweils den Anlass bieten.

Da die Diskussion sich ja vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Ökonomisierung des Kunstmilieus abspielte, die die Kunst – zumindest mittelbar – wieder zur Auftragskunst zu degradieren droht, stellte sich Frage, inwiefern diese Befreiung von herrschenden Normen, für die die Kunstautonomie die Grundlage bildet, gerade auch die Loslösung von ökonomischen Zwängen des kapitalistischen Gesellschaftssystems bedeutet. Während diese Auffassung einen gewissen Anklang fand, taten sich die meisten TeilnehmerInnen mit der polemisch entgegen gesetzten These relativ schwer, dass die Kunst möglicherweise gerade ein funktionales Element des kapitalistischen Systems darstellt. Diese These versuchte sich darauf abzustützen, dass die Kunstautonomie historisch betrachtet ungefähr zeitgleich mit der Ausbreitung des Kapitalismus postuliert wurde. Ihre GegnerInnen bestritten jedoch, dass die gegenwärtige Gesellschaftsform mit dem Begriff des Kapitalismus angemessen beschrieben werde. Während die einen statt vom Kapitalismus lieber von der Marktwirtschaft sprachen, vertraten andere die Auffassung, dass die Demokratie das bestimmende Merkmal unserer Gesellschaft sei, wohingegen der Kapitalismus auch unter anderen soziopolitischen Bedingungen bestehen könne. Die BefürworterInnen der These machten jedoch geltend, dass ja gerade das Entwickeln und Erproben von Neuem eine notwendige Bedingung für die Dynamik des Kapitalismus ist und dass die Kunst hierfür das ideale Experimentierfeld darstelle. Damit wurde die Freiheit der Kunst auch mit der Freiheit des Hofnarren in Verbindung gebracht, dem es ja auch bis zu einem gewissen Grade zustand die herrschenden Gesetze am Hof ins Lächerliche zu ziehen und zu hinterfragen.

Diese instrumentelle Betrachtung der Kunst als externalisiertes Forschungslabor der kapitalistischen Gesellschaft weckte jedoch spürbare Widerstände, da sie genau die zentralen Errungenschaften der Kunst wieder aufzuheben drohte. Der Selbstzweck, die Eigengesetzlichkeit und Freiheit der Kunst wären dahin und letztlich wieder einem übergeordneten Ziel funktional untergeordnet. Diese These liefe in letzter Konsequenz auf eine Verblendungsannahme hinaus, die besagt, dass, wer sich in der Kunsterfahrung frei wähnt, einer Täuschung hingibt. Dagegen wurde die Auffassung vorgebracht, dass eben genau darin der Witz der Kunst liege, dass sie einem gestatte, von den alles durchdringenden Zweck- und Nutzenzusammenhängen für einen Augenblick Abstand zu gewinnen. Darin liege quasi ihre säkulare Nachfolge der Religion, dass sie eine Befreiung von weltlichen Zwängen mit sich bringe.

Obschon die Diskussion sich grösstenteils um den Sinn und Zweck der Kunstfreiheit drehte, wurden wiederholt die Fragen laut, ob es sie überhaupt gebe und ob sie überhaupt möglich sei. Auf die erste Frage wurde zunächst eine bestätigende Antwort gegeben, da es ja sehr viele Kunstschaffende gebe, die die Kunstfreiheit in ihrer Arbeit für sich in Anspruch nehmen. Darauf wurde jedoch erwidert, dass dies allenfalls dafür spreche, dass der Begriff der Kunstfreiheit als theoretisches Ideal oder Postulat gelte, dass dies aber noch nicht heisse, dass sie in einer Gesellschaft auch praktisch verwirklicht sei. Die Debatten um Hirschhorn und Meier würden da zumindest gewisse Zweifel nahelegen. Es bestritt jedoch niemand, dass der Verfassungsgrundsatz der Autonomie der Kunst in der Schweiz tendenziell verwirklicht ist. Damit gelangten wir zur Frage, welche Bedingungen eigentlich gegeben bzw. erfüllt sein müssen, damit die Autonomie der Kunst als realisiert betrachtet werden kann. Wie unsere Diskussion gezeigt hatte, halten wir die Freiheit der Kunst für erstrebenswert und auch nötig, sofern sie nicht als absolute verstanden wird. Wer wäre somit für ihre Realisierung zuständig? Da die Autonomie der Kunst ja in der Verfassung festgeschrieben steht, scheint es nahe zu liegen, dass es auch die Verpflichtung des Staates ist, für die Durchsetzung dieses Prinzips zu sorgen. Das heisst, die exekutiven Instanzen des Staates sind dafür zuständig, dass die Autonomie der Kunst gewährleistet ist.

Diese Feststellung warf jedoch gleich wieder eine neue Frage auf. Bedeutet der Auftrag, die Autonomie der Kunst sicherzustellen für den Staatsapparat bloss, dafür zu sorgen, dass KünstlerInnen nicht vorschnell juristisch belangt werden dürfen, wenn ihre Arbeiten mit moralischen, juristischen oder anderen Normen in Konflikt geraten? Oder beinhaltet dieser Auftrag neben der Sicherstellung der „negativen“ Freiheit von juristischer Verfolgung auch eine „positive“ Freiheit im Sinne einer Ermöglichung von künstlerischer Arbeit durch finanzielle Förderung? Während hinsichtlich der juristischen Freiheit ein Konsens bestand, war es ziemlich umstritten, ob die finanzielle Förderung ebenfalls Bestandteil des öffentlichen Auftrags zur Sicherstellung der Autonomie der Kunst war. Die BefürworterInnen dieser Auffassung führten zumindest eine mögliche Argumentation für ihren Standpunkt an, die darauf basierte, dass künstlerische Arbeit immer auch ökonomischen Zwängen ausgesetzt sei, weshalb die Autonomie der Kunst auch eine Befreiung von diesen Zwängen bedeuten müsse. Um diese Position zu unterstreichen wurde auf die analoge Problematik der Wissenschaftsfreiheit (Artikel 20 der Bundesverfassung) verwiesen, die sich auch nur in dem Masse realisieren lasse, wie die Wissenschaft unabhängig von ökonomischen Nutzenüberlegungen stattfinden könne, was wiederum eine staatliche Finanzierung insbesondere der Grundlagenforschung unabdinglich mache.

Womit wir wieder einmal am Ende unserer Diskussion angelangt waren…

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4 Kommentare

  1. herzlichen dank für diese intensive auseinandersetzung und das (geistige;) transkribieren. ich bin froh, dass wir/ich nur am rande als beispiel dienten, denn ich finde die die diskussion auslösenden brandherde/konfliktpunkte (RAF-shirt, «graffiti-workshop», etc.) in dieser umfassenden diskussion viel zu harmlos. des weiteren würde ich mir wünschen, dass «kunstfreiheit» auch die befreiung der kunst von der ästhetik beinhaltet…; denn oft macht der rein ästhetische ansatz als solches bereits ein kunstwerk harmlos. so gesehen möchte ich auch die künstlerInnn in die pflicht nehmen, denn ich finde, dass sie ihre freiheiten bei weitem nicht ausschöpfen. alleine schon die freiheit in der wahl der arbeitsinstrumente könnte eine kaum überblickbare vielfalt der möglichkeiten nutzbar machen. umso unerklärlicher ist es, dass die künstlerInnen ständig dieselben werkzeuge und präsentationsformen wählen (pinsel, leinwand, fotoapparat, videokamera/-beamer, skulptur, etc.pp.). kunstfreiheit sollte auch die freiheit der wahl des präsentationsraumes umfassen. solange jedoch die förderung von kunst nach wie vor sehr stark an tradierte kunstinstitutionen gekoppelt ist, wird die los-/ablösung derselben schwierig sein (abgesehen davon, dass beispielsweise /in zürich/ der öffentliche raum als /subversiv unterwanderbarer/ ausstellungsraum scheinbar nicht gedacht oder diskutiert werden darf – siehe schlüsselaussage/-kritik im/zum «graffiti-workshop»).
    soweit mal fürs erste… 😉

  2. ich gebs ja zu: der praktiker ist mit mir durchgebrannt. als ausgleich möchte ich noch kurz ein (weiteres) theoretisches fenster, das in der frage nach der autonomie der kunst aufgestossen werden sollte: vermittlung. und damit die frage: wie vermittle ich kunst, die sich alle freiheiten nimmt? das grosse problem dabei (ihr habt es angeschnitten): die menschen sind verschieden. der oder die eine braucht eine schocktherapie, um eine irritation konstruktiv in ihr/sein weltbild einzubauen, der oder die andere muss sanft an der hand an die sache rangeführt werden. oder wiederum als «vermittelnder praktiker» gefragt: wie kann ich vorurteilsbeladene reflexe abbauen, ohne eine abstumpfung oder ein wirkungsloses, oberflächliches amüsement zu verursachen?

  3. Ich möchte noch einen weiteren Gesichtspunkt anführen, der meines Erachtens ebenfalls noch zu dieser Debatte gehört, der aber von uns gar nicht diskutiert wurde. Nämlich die Frage, inwiefern die zeitgenössische Kunst sich selber daran macht, ihre Autonomie aufzuheben, wenn sie sich explizit in gesellschaftliche und politische Belange einmischt und damit die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst verwischt. Diese Tendenz ist heute häufig anzutreffen, insbesondere bei Medienprojekten, wo die allgemeine Konvergenz des Digitalen/Medialen die Trennung zwischen Realem und Fiktion ohnehin zunehmend erschwert. Die zu beobachtenden Bestrebungen vieler KünstlerInnen sich aus dem abgezirkelten und damit auch entschärfenden Kontext des Museums bzw. der Galerie (Stichwort: white cube) hinaus und in die Welt zu begeben (so verstehe ich die von Philipp angeführte Befreiung der Kunst von der Ästhetik), kann zwar als Befreiung der Kunst von den Limitationen ihrer gesellschaftlich zugewiesenen Funktion aufgefasst werden, wirft dann aber eben auch die Frage auf, ob diese Befreiung letztlich auch auf die paradoxe Befreiung von der Freiheit der Kunst hinaus läuft. Zumindest scheint sich durch diese pervasive Tendenz der Gegenwartskunst die Frage zu verschärfen, wie wir entscheiden, ob wir etwas als Kunst durchgehen lassen und ihm somit auch künstlerische Autonomie zugestehen wollen.
    Zur Vermittlungsfrage fällt mir so spontan nur eins ein, nämlich, dass es da aufgrund der individuellen und sozialen Unterschiede eben keine allgemeingültigen Rezepte geben kann. Es wird nie allen passen, was man macht. Denn schliesslich brauchen wir ja die „feinen Unterschiede“, um uns abzugrenzen…
    Das wiederum würde heissen, dass man sich eben zu entscheiden hat, an wen man sich wenden will, und dafür die richtige Sprache finden muss. Tja.

  4. jaja…, losgelöst vom museum (white cube) wird es dann eben schwierig oder eben spannend, die kunstfreiheit zu definieren oder auszuloten. oder umgekehrt formuliert: nichts einfacher, als im white cube die kunstfreiheit auszuleben (ausser bilder von nackten kindern aufhängen, möven mit baby-fötus-köpfen aufstellen, raf- oder nazi-ausstellungen kann man dort inzwischen ja alles ungestört und unstörend machen). klaro: es wird verdammt schwierig, wenn rechtsradikale oder kommerzielle werbeagenturen ihre aktionen als kunst bezeichnen (würden). ich bereue es jedoch (quasi im gegenzug;) nach wie vor, dass ich ihn nicht als «richtiger künstler» vor der strafverfolgung schützen konnte: http://www.persoenlich.com/news/show_news.cfm?newsid=66199