Der Wissensunternehmer

Beim Streit um die Geisteswissenschaften geht es nicht nur um notwendige Reformen. Es geht darum, die Universitäten an die Interessen der Wirtschaft anzukoppeln

Unser Reformer, nennen wir ihn Dr. Lothario, trägt feines Tuch und spricht höflich, aber bestimmt. Mit dem alten Schlendrian, so schärft er seinen Zuhörern ein, dürfe es so nicht weitergehen. Die alten Zöpfe müssten abgeschnitten, die träge Gesellschaft zukunftsfähig gemacht werden. Wir könnten viel „Kapital“ sparen, wenn „wir mit den Interessen weniger willkürlich umgingen“. Vor allem Musik und Dichtung seien brotlose Kunst, ihre „Notwendigkeit“ liege im Dunkeln. Also: Macht euch nützlich.

Das ist keine Brain-up-Prosa aus dem Hause der Bildungsministerin Edelgard Bulmahn; es ist eine Szene aus dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bereits bei Goethe wird an allen Ecken und Kanten modernisiert, kalkuliert und reformiert, und bald ist die „Oeconomie“ das einzig Übrigbleibende. Was sich nicht rechnet, geht unter; wer nicht rentabel ist, wird weggeschafft. Mignon und Harfner, die beiden Innovationsverweigerer, gehen zugrunde; das Humankapital des Helden wird einer nützlichen Verwendung zugeführt. Nun weiß Wilhelm, was die Welt im Innersten zusammenhält, nämlich Geld, Arbeit, Wissen. Die Zukunft kann beginnen. Goethe nannte sie die „Zeit der Einseitigkeiten“.

Es fehlt nicht viel, und man könnte sagen: So wie in Goethes Roman die „Alten“ von den Modernisierern bedrängt wurden, so ergeht es heute in Deutschland den Geisteswissenschaften. Lange Zeit haben Politiker ihnen den roten Teppich ausgerollt und sie danach ebenso lange mit Missachtung gestraft. Nun sollen sie Rechenschaft abgeben und erklären, warum sie überhaupt auf der Welt sind. Einige Institute, zum Beispiel an der Hamburger Universität, sollen vorsorglich ganz geschlossen werden, an anderen ist ein brutaler Überlebenskampf ausgebrochen. Es ist eben nicht mehr selbstverständlich, dass Philosophen, Altertumswissenschaftler, Kunsthistoriker und Germanisten selbstverständlich sind.

Über diese Krise ist im Feuilleton der ZEIT in den vergangenen Wochen auf ganzer Breite diskutiert worden. Niemand hat dabei der Gesellschaft, also uns allen, das Recht abgestritten, zu erfahren, wofür Steuergelder verwendet werden, welche Früchte sie tragen – und warum bei den Geisteswissenschaften so viele Studenten ihr Studium abbrechen, warum sie nach kurzem Sichtkontakt in hellen Scharen davonlaufen oder als verlorene Seelen ergebnisoffen im Dschungel der Fußnoten verschwinden.

Eines hat die Diskussion aber auch gezeigt. Es ist sinnlos, vom goldenen Ordinarienzeitalter zu schwärmen, in dem die Sonne der Bildung nie untergeht. Auch der Glaube, die Geisteswissenschaften könnten Modernisierungsschäden heilen und die Gesellschaft mit hochwertigen Sinnangeboten beliefern, erinnert an Luhmanns Wort vom alten Sauerkraut, das man bei Bedarf aus dem Keller holt und aufgewärmt genießt.

Solche Sentimentalitäten verhindern Erkenntnis. Sie machen blind dafür, dass hinter der Forderung, die Geisteswissenschaftler sollten sich endlich reformieren, noch ein ganz anderes Interesse steckt: die Forderung, sie sollten endlich verwertbares Wissen produzieren, vergleichbar ihren Kollegen von der Schiffsbautechnik, Wasserchemie oder Volkswirtschaft. Diese Forderung macht die Lage so aussichtslos. Das hieße, selbst wenn sich geisteswissenschaftliche Institute weiterhin nach Leibeskräften reformierten und die Zahl der Studienabbrecher bald niedriger läge als die Versagerquote bei Spitzenmanagern – es würde ihnen nichts helfen. Ihre Legitimität, ihr Wohl und Wehe, bliebe abhängig vom Nutzwert, den sie für die Gesellschaft erbringen.

Nicht der Wunsch nach Reform, sondern die Forderung nach einer „Ökonomie der Bildung“ ist der Sprengsatz in dieser Debatte. Denn wie Theater, Orchester, Bibliotheken und Kultursender sollen auch die Geisteswissenschaften angesichts knapper Mittel ihre Karten auf den Tisch legen und ihre Zweckdienlichkeit nachweisen. Auch sie sollen sich nun dem „Supercode“ der Gesellschaft unterwerfen, dem ökonomischen Kalkül als dem Einzigen, was zählt. Man kann es auch nüchterner sagen. Das Kräftefeld, in dem sich die Universität zwei Jahrhunderte lang mit großem Selbstbewusstsein bewegte, verschiebt sich. Die Wissenschaften werden strukturell neu „gekoppelt“. Während sich die Bindungen an politische Institutionen lockern, werden die Kopplungen an Markt und Wirtschaft, an private Stiftungen und merkantile Interessen, immer enger.

War es Wilhelm Humboldt noch gelungen, die Geisteswissenschaften vor spätfeudalistischen Nützlichkeitsforderungen zu schützen und ihre kulturelle Autonomie sicherzustellen, so kehrt diese Effizienzverlangen heute mit Macht in die Universität zurück. Seine Formeln lauten, ganz im zeitgemäßen McKinsey-Deutsch: „Projektorientierte Kundenorientierung“ und „New-Public-Management“, „Externe Relevanzbeurteilung bei polyperspektivischer Selbstbeobachtung“, „Benchmarking“ und „Drittmittel“. Auf der Bühne des neuen Zeitalters erscheint der Forscher als Wissenschaftsunternehmer und sein Institut als Dienstleistungsbetrieb. Es muss Leuchtfeuer zünden und sich auf dem Markt bewähren, vergleichbar einem Profit-Center bei Bertelsmann. Wirft es keinen messbaren Gewinn ab, glänzt es nicht einmal auf dem (Bestseller-)Markt der öffentlichen Aufmerksamkeit, dann wird es geschlossen. Denn unternehmerisch muss es schon sein, oder wie es im Memorandum einer Reforminitiative unter Federführung der DaimlerChrylser Services heißt: Die „Förderung einer unternehmerischen Kultur an den Hochschulen“ besitzt höchste Priorität.

Bevor Panik ausbricht: Das ist zum Teil noch blanke Rhetorik, und nicht jede Effizienzforderung ist ein Anschlag auf die Wissenschaftsfreiheit. Man könnte sogar recht entspannt mit dem Bielefelder Soziologen Peter Weingart sagen, nun wandere die ökonomisch interessierte Wissensgesellschaft, die vor zweihundert Jahren an der Universität ihren Ausgang nahm, an ihre alte Stätte zurück und melde ihre Ansprüche an. Das mag so sein. Aber sind es auch die richtigen Ansprüche?

Schon die Tatsache, dass der Jargon der gescheiterten New-Economy umstandslos auf die Geisteswissenschaften übertragen wird, als seien sie Subunternehmer der Wirtschaft, sollte zur Vorsicht gemahnen. Auch die Vorstellung, finanziell ausgeblutete Institute ließen sich als Mischbetrieb aus Profit-Center und Drittmittelmanufaktur betreiben, ist ebenso abwegig wie der Glaube, die Geisteswissenschaftler seien Spezialisten für „Cultural Engineering“ (Dan Diner), die Öl ins Getriebe einer alternativlosen Innovationsmaschine schütten. Zum Glück würde es gar nicht so weit kommen. Wer all die Ranking-Vorgaben artig erfüllt, die sich die Wissensmanager ausgedacht haben; wer ständig auf einer Woge von Drittmitteln team- und projektorientiert seine Performanz vorführt, der wird gar keine Zeit mehr zum „zukunftsfähigen“ Denken haben und somit dem Schicksal entgehen, seine Forschung an Bedürfnisse anzupassen, die vielleicht schon morgen keine mehr sind.

Vielleicht steckt ja im Wort „zukunftsfähig“ das ganze Desaster. Viele Wissenschaftsmanager – und leider auch viele Politiker – betrachten die Geisteswissenschaften als eine Art Börsenunternehmen, das in einem kurzen Zeithorizont „fit“ gemacht wird, damit es rasch seine Investitionen wieder einspielt. Je zukunftsfähiger die Wissens-Aktien heute sind, je nützlicher ihre Fragen, desto mehr Gewinn werden sie in der Zukunft ausschütten. Genau darin liegt der Irrtum. Denn die „Zukunft“, die im Ziergarten des nützlichen Wissens bewirtschaftet werden soll, hat noch niemand gesehen. Sie ist schlichtweg unbekannt, und wenn es anders wäre, könnte ihre sachdienliche Erforschung getrost entfallen.

Fast scheint es, als hätten die Vorkämpfer für Relevanz und Nützlichkeit Angst vor dem Eigensinn der Geisteswissenschaften oder, um Betriebswirtschaftlern verständlich zu bleiben: vor deren „Eigenökonomie“. Frühere Generationen hatten durchaus ein Gespür für die Binsenweisheit, dass die Wirtschaft ihre kulturellen Voraussetzungen nicht selbst erzeugen kann. So wusste der Philosoph Adam Smith sehr genau, dass die Wirtschaft auf einem Fundament ruht, das nicht ökonomischer, sondern kultureller Natur ist. Wer Wissenschaft allein ökonomisch bilanziert, wer die Spannung zwischen dem kulturellen und instrumentellen Wissen auflöst, der hat am Ende gar nichts mehr zu rechnen.

Eine Ausrede für die Geisteswissenschaften ist das nicht. Es stimmt, ihre kulturelle Autonomie besteht in der Weitergabe und Interpretation von Überlieferung; sie widmet sich Fragen, die ihr nicht von außen aufgezwungen werden, sondern die ihr durch eigene Forschung zu Bewusstsein kommen.

Doch das ist auch nur die halbe Wahrheit. Die Geisteswissenschaften schweben nicht im leeren Raum, sie sind nicht nur historische Textwissenschaften. Deshalb erwartet die Gesellschaft von ihnen zu Recht, dass sie sich jener Probleme annehmen, die ihr unter den Nägeln brennen. Diese Liste ist lang. Es sind, nur um einige aktuelle Beispiele zu nennen, Fragen nach der gerechten Demokratie im Zeitalter der Arbeitslosigkeit, nach der globalen Gewalt und der strukturellen Arroganz „liberaler“ Gesellschaften. Der ethische Kern dieser Fragen ist Geisteswissenschaftlern nur allzu vertraut. Es ist die Frage nach dem richtigen Leben.

© DIE ZEIT 13.05.2004 Nr.21

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