Liebe MitdenkerInnen
Wie schon angekündigt, erhaltet ihr nun doch noch die Zusammenfassung zur hirnblutung vom Dezember. Damals ging es um die Frage, inwiefern wir unterscheiden können, ohne Wertungen vorzunemen. Die Frage kam auf, weil sie Konsequenzen für unseren Umgang mit sozialen Unterscheidungen wie Geschlecht oder Rasse hat. Mehr dazu findet ihr im Anhang bzw. hier: http://hirnblut.elenchos.ch/?p=116, wo ihr wie immer Kommentare und Ergänzungen anbringen könnt.
Da ausserdem mittlerweile die zehnte hirnblutung ebenfalls schon über die Bühne ist, kriegt ihr deren Zusammenfassung gleich auch noch. Hier gings um einen philosophischen Klassiker, nämlich um die Frage nach der Freiheit des Willens. Von der schien am Ende der Diskussion nicht viel übrig zu bleiben. Die Zusammenfassung habt ihr auch im Anhang und allfällige Protestnoten lassen sich hier anbringen: http://hirnblut.elenchos.ch/?p=117.
Viel Spass beim Lesen.
Liebe Grüsse – imre
Die Zusammenfassung dieser Diskussion kommt mit beträchtlicher Verspätung daher. Da es mir leider nicht früher möglich war, mich dahinter zu setzen, wird sie wohl etwas lückenhafter ausfallen.
Da der einzige ernsthafte Alternativvorschlag schon vor der Diskussionseröffnung wieder zurück gezogen wurde, blieb nur die Fragestellung übrig, die ich ins Netz gestellt hatte. Ich gebe sie daher gleich als Zitat wieder:
„Kann man unterscheiden, ohne zu werten? Falls nicht, wie soll man damit umgehen?
Die Phrase, dass man zunächst einmal bloss unterscheide, noch ohne irgendwelche Wertungen vorzunehmen, ist uns allen vertraut (insbesondere aus Konfliktsituationen). Auch in Meditationspraktiken bemüht man sich, Dinge einfach so wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten. Solche Äusserungen legen also nah, dass wir unterscheiden können, ohne zu werten. Pragmatische, funktionale und evolutionäre Erkenntnistheorien werden dagegen die Feststellung gelten machen, dass wir Unterscheidungen allein bzw. eben gerade aufgrund der damit verbundenen Wertunterschiede vornehmen (also beispielsweise, weil sie unserem Überleben zuträglich sind), dass sich somit gar keine Unterscheidung ohne Wertung denken lassen.
Ich halte die Frage daher für wichtig, da sie auch für unseren zwischenmenschlichen Umgang von Bedeutung ist. Wenn wir unterscheiden können, ohne zu bewerten, dann lässt sich beispielsweise ein moralisch neutraler Sexismus oder Rassismus denken, also der Standpunkt, dass es eine Differenz (zwischen Geschlechtern, Rassen etc.) anzuerkennen gibt und dass diese Differenz handlungsrelevant ist. Wenn wir aber keine Unterscheidungen treffen können, ohne sie mit Wertungen zu verknüpfen, dann stellen sich natürlich Fragen wie, ob es nicht sinnvoller wäre, auf diese Unterscheidungen zu verzichten, um die damit einhergehenden Wertungen zu vermeiden, oder, falls man nicht darauf verzichten möchte, inwiefern diese Wertungen problematisch sind, ob alle Wertungen gleich problematisch sind und wir wir mit dieser Problematik umgehen können.“
Rückblickend scheint es mir, als wäre die Fragestellung nicht ganz ideal gewählt oder formuliert gewesen, da wir während des Gesprächs Mühe hatten, bei der Sache zu bleiben und stattdessen dazu neigten, uns in Detailfragen oder angrenzenden Fragestellungen zu verlieren. Zumindest war dies meine Wahrnehmung des Diskussionsverlaufs. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass die eigentliche Frage an sich ziemlich abstrakt und vielleicht auch von einer Allgemeinheit ist, die sich so pauschal schlecht beantworten lässt. Bisweilen fiel es uns schon schwer, zwischen „blossen“ Unterscheidungen und damit einhergehenden Wertungen klar zu differenzieren. Häufig erschien jemandem eine Eigenschaft als bloss beschreibendes Unterscheidungsmerkmal, was jemand anders schon als hinzukommende Wertung betrachtete (Z.B. „Frauen sind …“). Dieses durchaus bemerkenswerte Phänomen wurde jedoch nie zum Anlass einer eigenen Erörterung.
Zu Beginn drehte sich die Diskussion vor allem darum, was wir unter „Unterscheidung“ und „Wertung“ verstanden und wie beides in seiner Entstehung voneinander abhängt. So wurde gleich eingangs festgehalten, dass Unterscheidungen als solche schlichtweg unverzichtbar seien. Unsere Wahrnehmung komme nicht darum herum, sich gewisser Vorurteile zu bedienen. Hierzu gehörten eben auch die Geschlechter- und Rassenunterscheidungen. Dagegen wurde jedoch sehr bald eingewandt, dass die konkreten Unterscheidungen und Kategorien, die wir gebrauchen, in hohem Masse relativ seien. Dies wurde am Beispiel des Rassebegriffs illustriert. Dieser sei eine relativ moderne Kategorie. So seien beispielsweise im Mittelalter ganz andere Differenzen massgeblich gewesen, wenn es um die soziale Einordnung von Individuen ging (z.B. christlich-heidnisch). Darauf wurde jedoch erwidert, dass, selbst wenn man die kulturelle Relativität der gebräuchlichen Unterscheidungen einräume, dies nichts daran ändere, dass wir ständig mit Unterscheidungen operierten.
Das angeführte Beispiel warf die Frage auf, ob wir es unter Umständen mit (zwei) verschiedenen Ebenen von Unterscheidung zu tun hätten. So liesse sich so etwas wie eine universelle (oder zumindest anthropologische) Ebene der Wahrnehmungsdifferenzen postulieren: Auch im Mittelalter wird man den Unterschied zwischen einer Asiatin und einer Europäerin visuell wahrgenommen haben. Daneben bzw. darüber hätte man jedoch noch (mindestens) eine weitere Ebene anzunehmen. Diese zweite Ebene würde die begrifflichen Kategorien enthalten, die wir in unserem Leben für relevant betrachten und auf denen unsere Handlungsentscheidungen beruhen. Also heutzutage beispielsweise die Unterscheidung AusländerIn-SchweizerIn (Die Kategorie der Rasse ist ja zumindest in unseren Graden relativ tabuisiert). Diese kategorielle Ebene wäre nun in einem viel höheren Masse von kulturellen Faktoren abhängig als die Ebene der primären Sinneswahrnehmungen. Ein Beispiel, das dies in hervorragender Weise zu illustrieren scheint, sind die Farben. So nehmen die Menschen die Farben von ihrer physiologischen Ausstattung her im Prinzip alle gleich wahr (Farbenblindheit und ähnliche Behinderungen einmal ausgenommen). Je nach Kultur gibt es jedoch gewisse Abweichungen, was die Unterteilung und Benennung des Farbspektrums angeht wie auch hinsichtlich der Bedeutungen, die mit einer Farbe assoziert werden.
Die Erwähnung der kulturellen Relativität von Unterscheidungen weckte die Frage, woher man die Unterscheidungen eigentlich hat, mit denen man so im Alltag hantiert. Eine naheliegende Vermutung war es da, dass wir unsere Unterscheidungen durch die Erziehung gelernt haben. Diese Annahme drängt sich insbesondere dann auf, wenn man sich ein Neugeborenes in der Analogie eines weissen, noch unbeschriebenen Blattes Papier denkt.
Bis zu diesem Zeitpunkt war das Verhältnis von Unterscheidung und Wertung noch gar nicht zur Sprache gekommen. Entweder wurde beides implizit gleichgesetzt, dann wäre auch das Bewerten eine historisch relative und über die Erziehung vermittelte Tätigkeit, oder das Werten müsste als eigener Akt nachträglich hinzukommen. Auf die entsprechende Frage hin wurde vorgeschlagen, das Bewerten als nachträglich hinzukommende Tätigkeit zu betrachten. Wobei diese Trennung dann wieder etwas relativiert wurde, da es offensichtlich kaum Unterscheidungen zu geben scheint, die nicht mit einer Wertung verknüpft sind. Möglicherweise liesse sich jedoch behaupten, dass eine Unterscheidung so lange noch wertfrei sein könnte, wie sie noch nicht in den Zusammenhang eines übergeordneten Kategorienrasters eingeordnet werden kann, also so lange sie noch ein Moment intellektueller Irritation mit sich führt.
Da diese Auffassung bisher nur dürftig argumentativ unterfüttert worden waren, wurde (wohl mit einer gewissen polemischen Absicht) ein alternatives Modell eingebracht, das einen Punkt aus der Formulierung der Fragestellung aufnahm.
Dieses Modell behauptete, dass nicht die Unterscheidungen als primär und zumindest temporär wertungsfrei zu betrachten sind, sondern dass vor einem evolutionären oder pragmatischen Theoriehintergrund die Bedingungsverhältnisse gerade umgekehrt sein müssten. Also dass das Werten dem Unterscheiden voran ginge. Unter Ansetzung evolutionärer oder pragmatischer Prinzipien würde es nur, respektive erst aufgrund von Wertungen zu Unterscheidungen kommen. Wertungen seien die eigentlichen Ursachen dafür, dass ein Lebewesen überhaupt erst Unterscheidungen vornehmen würde.
Da diese Argumentation nicht unmittelbar einleuchtete, musste das dieser Auffassung zugrunde liegende Konzept des Pragmatismus etwas erläutert werden: Das zentrale Merkmal des so verstandenen Pragmatismus besteht demnach darin, dass das letztinstanzliche Kriterium für Entscheidungen in der Nützlichkeit gesehen wird. In dieser Nützlichkeitsorientierung liegt auch die Nähe des Pragmatismus zu evolutionären (und funktionalen) Ansätzen. Denn sie alle vetreten den Standpunkt, dass quasi nur das zählt, was dem Überleben und der Fortpflanzung dienlich ist. Die Implikationen dieser Prämisse für unsere Auffassung von Erkenntnis und Moral sind relativ weitreichend und lassen sich wohl unter dem Stichwort idealistische Ernüchterung zusammenfassen. Denn nach diesem Ansatz sind Wahrheit bzw. „Gutheit“ nicht mehr Eigenschaften, die einer Aussage bzw. Handlung als solcher zukommen. Stattdessen wird sie einer Aussage nur noch in Abhängigkeit von einem bestimmten Subjekt zugeschrieben. Also in etwa: Wenn sich im Hinblick auf mein Fortkommen die Überzeugung bewährt, dass die Erde eine Scheibe ist, dann ist diese Überzeugung für mich wahr.
Unter Annahme dieser Voraussetzung leuchtet es nun eher ein, weshalb die Wertungen den Unterscheidungen vorangehen. Wertungen können ja als unmittelbarer Reflex von (Un-)Nützlichkeitserfahrungen verstanden werden. Um es wieder am Beispiel des Säuglings zu illustrieren: Wenn der Säugling zwischen seiner Mutter und dem Rest der Welt zu unterscheiden beginnt, so lässt sich dies bestens mit seiner Erfahrung erklären, dass seine Mutter ihn ernährt und mit Geborgenheit umgibt. Da er feststellt, dass letzteres nicht immer der Fall ist, beginnt er nach Merkmalen zu suchen, an denen er diese verschiedenen Erfahrungen festmachen kann.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass Wertungen massgeblich dafür sind, ob wir eine Unterscheidung vornehmen oder nicht, sind Strassenampeln. Während wir die bunten Lämpchen, die beim Dönerladen blinken, in der Regel ignorieren, achten wir an einer Kreuzung genau darauf, welche Farbe die Ampel anzeigt. Weil wir wissen, dass ihre Beachtung für uns (unser Wohlergehen und Überleben) wichtig ist. Unterscheidungen erweisen sich somit als Wahrnehmungsfilter, die uns ein erfolgreiches Handeln ermöglichen und erleichtern. Eine Bedingung dafür, dass sie so funktionieren können, ist jedoch, dass sich einmal getroffene Unterscheidungen zur Regeln verallgemeinern lassen, die auch Schlüsse in die Zukunft zulassen.
Die pragmatische Argumentationslinie verträgt sich problemlos mit der relativistischen Auffassung, dass es sowohl bei kategoriellen Unterscheidungen (wie auch bei den damit einhergehenden Wertungen) aufgrund verschiedener Erfahrungen zu kulturellen und historischen Besonderheiten kommen kann. Andererseits widerspricht sie der zu Beginn vorgetragenen Auffassung in einigen Punkten, so dass sich die Frage stellte, was von dieser übrig blieb. So wurde daran festgehalten, dass die Erziehung bei der Ausbildung unserer kategoriellen Raster eine grosse Rolle spielt. Wenn wir jedoch Unterscheidungen erst infolge von Wertungen treffen (die wir wiederum aufgrund von Nützlichkeitserfahrungen vorgenommen haben), wie kann unser soziales Umfeld seinerseits Wertungen oder Unterscheidungen an uns heran tragen? Dann muss es auch möglich sein, dass wir Wertungen und Unterscheidungen über die äussere Vermittlung durch andere und nicht nur über eigene Erfahrung annehmen. Wobei es auch hier mögliche Zwischenstufen geben könnte, in dem Sinn, dass ein Kind gewisse an es heran getragene Wertungen nur deshalb übernimmt, weil dies für es vorteilhaft ist. Denn, wenn es dies nicht täte, müsste es ja mit strafender Sanktionierung von seinem erzieherischen Umfeld rechnen. Das freiwillige Übernehmen von fremden/äusserlichen Wertungen und Unterscheidungen liesse sich somit in letzter Konsequenz auch auf persönliche Nutzenoptimierung zurück zu führen.
Diese Überlegungen würden sich so weit auch mit der Beobachtung vertragen, dass man vor allem in jungen Jahren neue kategorielle Unterscheidungen lernt, dass man aber ab einem gewissen Alter immer träger oder starrer wird und es einem schwerer fällt, von liebgewonnen-gewohnten Vorurteilen Abschied zu nehmen. Dies wiederum verträgt sich bestens mit der Beobachtung, dass Erwachsene, um schnell handeln zu können, viele Unterscheidungen und Wertungen relativ spontan und unbewusst vornehmen.
Ein weiter Beitrag versuchte nachzuweisen, inwiefern Unterscheidung und Wertung untrennbar miteinander verknüpft seien, indem er eine etymologische Interpretation wagte. Und zwar schloss der Teilnehmer von dem Präfix „unter“ in „unterscheiden“ darauf, dass es im Akt des Unterscheidens per se zu einer hierarchischen Gegenüberstellung zweier Seiten komme, bei der die eine Seite positiver als die andere bewertet würde. Den übrigen Anwesenden schien die etymologische Herleitung trotz des interessanten Denkanstosses, den sie ergab, etwas problematisch, da das Präfix „unter“ auch in Verben vorkomme, die keinerlei Hierarchie oder oben-unten-Gliederung implizierten (Z.B. „unternehmen“).
Neben der persönlichen Erfahrung und der erzieherischen Vermittlung wurde noch auf eine weitere Möglichkeit hingewiesen, wie man zu neuen Unterscheidungen kommen könne. Dabei wurde eine Idee aufgebracht, die quasi als Modell für die Weiterentwicklung von bestehenden Kategoriensystemen (oder „intellektuellen Rastern“ oder „kognitiven Apparaten“; wie auch immer man diesen Komplex aus sämtlichen Unterscheidungen und Wertungen einer Person oder Gesellschaft nennen möchte) dienen könnte. So wurde darauf hingewiesen, dass das Erfinden oder Entdecken neuer Unterscheidungen ja eine gewisse Innovation voraussetze. Daher seien wohl kreative Tätigkeiten in hohem Masse daran beteiligt, wenn es darum geht, neue Unterscheidunen und Wertungen zu finden. Kreative und schöpferische Arbeit bestünde ja nicht zuletzt darin, etwas anders zu machen, indem man auf gewisse bestehende Unterscheidungen und Wertungen verzichtet und an ihrer Stelle neue einführt. Dieser Prozess der intellektuellen Evolution finde zwar primär auf der individuellen Ebene statt, könne sich aber beispielsweise im Medium der Kunst auch auf die Gesellschaft übertragen.
Die pragmatische Position schien somit die meisten Anwesenden tendenziell zu überzeugen. Das bedeutete, dass damit auch die Hauptfrage nach der Wertungsfreiheit von Unterscheidungen beantwortet war, und zwar im negativen Sinne. Sie wurde daher nicht weiter diskutiert.
Die prinzipelle Stärke der pragmatischen Position schien darin zu bestehen, dass sie erklärt, inwiefern uns Unterscheidungen dabei behilflich sind, unser Leben zu meistern, indem sie uns Handlungsentscheidungen erleichtern, respektive überhaupt erst ermöglichen. Zugleich schwingt gegenüber dem pragmatischen Ansatz auch eine gewisse Ambivalenz mit. Zum einen hat dies wohl damit zu tun, dass er auf die unliebsame Konsequenz hinaus zu laufen scheint, dass wir in unserem Erkennen und Handeln rein egoistisch bestimmt wären. Diese Konsequenz widerspricht unserer Intuition, die uns sagt, dass es neben dem egoistisch motivierten Handeln durchaus selbstlose Handlungsweisen gibt.
Hieran knüpfte sich jene Fragestellung, die eigentlicher Anlass für die Diskussion bildete. Da wir ja unweigerlich unterscheiden und mit unseren Unterscheidungen auch immer Wertungen zu verknüpfen scheinen, stellt sich die Frage, inwiefern dies ein Problem ist oder zu einem Problem werden könnte. Insofern, als Wertungen uns bei Handlungsentscheidungen Orientierung bieten, sind sie ja eher positiv einzustufen. Da wir sie im Alltag jedoch mehr oder weniger automatisch vornehmen, können sie dort problematisch werden, wo wir andere Menschen falsch einordnen (ohne uns dessen bewusst zu werden). Da wir diesen Menschen dadurch unrecht tun, bergen Unterscheidungen und die mit ihnen einher gehenden Wertungen eine Gefahr. Das ist damit gemeint, wenn wir davon sprechen, dass jemand vorurteilsbehaftet an die Menschen heran tritt. Leider unterschlägt diese Redeweise den Umstand, dass wir das alle ständig tun und es auch gar nicht ohne zu gehen scheint.
Deshalb kam die Frage auf, wie man damit umgehen könne. Bestünde ein Ausweg aus dieser Gefahr darin, dass man von einmal verinnerlichten Unterscheidungen auch wieder Abstand nimmt und wenn ja, inwiefern wäre das erstrebenswert? Dass es offensichtlich Leute gibt, die dies für erstrebenswert halten und auch zu tun versuchen, wurde mit Verweis auf den Buddhismus illustriert. In buddhistischen Meditationsübungen scheint man sich um eine weitreichende Aufhebung der kategorialen Unterscheidungen und Wertungen zu bemühen. Das führte zu der Folgefrage, was die Motivation für diese Bemühungen ist. Denn die Suspendierung unseres kategoriellen Apparates kann nur schlecht als Lösung für das Problem der falschen Einordnung von Menschen dienen, so lange wir Handeln und somit Unterscheidungen vornehmen müssen. Die Attraktivität der Aufhebung unserer angelernten Unterscheidungen scheint darauf zu basieren, dass sie uns quasi intellektuell befreit. Da Unterscheidungen gewisse Dinge aus- und andere einschliessen, führt dies dazu, dass wir in unseren Handlungsoptionen immer fixierter und eingeschränkter werden, je mehr Unterscheidungen wir gebrauchen. Der Abbau von verinnerlichten Unterscheidungen kann daher wieder neue Gedanken und Wahrnehmungsmöglichkeiten freisetzen. Und er hält einem die Relativität und „Gemachtheit“ der getroffenen Unterscheidungen vor Augen, also die Tatsache, dass man einmal gelernte Unterscheidungen auch wieder ändern kann. Es kann also auch produktiv sein, sich von seinen kategoriellen Unterscheidungen zu lösen, selbst auf die Gefahr hin, dass man damit naiv wirken könnte.
Da wir jedoch im alltäglichen Handeln nicht ohne Unterscheidungen auskommen, ist es mehr als fraglich, ob es sinnvoll ist, prinzipiell auf Unterscheidungen verzichten zu wollen, um Fehlurteile zu vermeiden. Stattdessen wird es wohl eher darum gehen, bisher gebrauchte Unterscheidungen zu suspendieren, um sich für neue und „bessere“ zu öffnen, die niemandem Unrecht tun. Das Abstandnehmen von verinnerlichten Unterscheidung wäre dann nur ein Schritt innerhalb eines fortwährenden Prozesses von Umschreibungen und Umwertungen. Da man zudem nicht ohne Unterscheidungen und Wertungen auskommt, sollte man sich selbst gegenüber auch eine gewisse Toleranz an den Tag legen, wenn es darum geht, eigene Fehleinschätzungen zuzugeben.
Die Gefahr der Fehleinschätzung durch Vorurteile scheint dort am grössten zu sein, wo wir Unterscheidungen und Wertungen ungeprüft von anderen übernommen haben. Daher besteht eine weitere Sicherheitsmassnahme darin, diese immer mit Vorbehalt anzuwenden und sie wo möglich durch eigene Erfahrungen zu prüfen. Damit verringert man die Gefahr, einfach mit der Herde mitzulaufen und jemandem ungewollt Unrecht zu tun. Ein weiterer Vorschlag, um sich vor vorschnellen und falschen Einordnungen zu schützen, bestand darin, sich eine begeisterungsfähige Einstellung zuzulegen, die sich darauf fokussiert, zunächst einmal unvoreingenommen („neutral“, „naiv“) und positiv an die Dinge und Menschen heran zu gehen. Dagegen wurde jedoch eingewandt, dass man mit einer solchen Einstellung wiederum Gefahr läuft, gerade auch jene Dinge zu verharmlosen, die tatsächlich schlimm sind.
Als abschliessender Kompromiss liesse sich wohl ein Ansatz formulieren, der sowohl dem Unterscheiden als auch dem Werten seine Berechtigung für die Bewältigung des Alltags zuspricht (Pragmatismus), der aber zugleich innerhalb dieses Alltags kleine Nischen für Erfahrungen der Suspendierung unseres intellektuellen Apparates vorsieht. Diese Erfahrungen können im Rahmen meditativer Übungen, im Schaffen/Betrachten künstlerischer Arbeiten, vielleicht ja auch in der Einnahme von bewusstseinsverändernden Substanzen bestehen und führen über den Umweg der temporären Befreiung von verinnerlichten Unterscheidungen und Wertungen zu einer Neukonfiguration der Kategorien, mit denen wir die Welt wahrnehmen und einordnen.