hirnblutung. Die erste. Die Zusammenfassung.

Auf mehr oder weniger allgemeinen Wunsch der Anwesenden hin, versuche ich mich hier in einer Zusammenfassung unserer ersten gemeinsamen Diskussionsrunde. Vielleicht hat ja auch der eine oder die andere Nichterschienene etwas davon.

Nachdem ihr auch vor Ort relativ zurückhaltend wart, als es darum ging, Erwartungen eurerseits zu formulieren, hab ich das Gespräch damit eröffnet, dass ich zunächst einmal eine Metadiskussion darüber führen wollte, wie wir diesen Anlass gestalten wollen. Mir ging es darum, gewisse Strukturen und Mechanismen explizit zu machen und nach unseren Vorstellungen zu definieren, die einen Diskurs immer prägen (Machverhältnisse, Normen, Interessen, etc.). Ich schlug daher verschiedene Instrumente und Verfahren vor, wie wir derlei konstitutive Elemente für einen Diskurs fassbar machen könnten („Diskursherrschaft“ zur Strukturierung des Gesprächsverlaufs, „Revolution“ als Möglichkeit auf die Metaebene zu wechseln, etc.). Damit sollte es uns leichter fallen, korrigierend einzugreifen, falls sich das Gespräch auf eine Weise entwickeln würde, die dem von mir angestrebten Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses, zu sehr zuwider liefe. Des weiteren zielten einige Vorschläge darauf ab, die inhaltliche Qualität des Diskurses sicher zu stellen, also dafür zu sorgen, dass wir nicht bloss auf dem Niveau des allgemeinen Meinungsaustauschs verblieben. Letztlich ging es mir also darum, dass das Gespräch auch tatsächlich den Charakter eines philosophischen Diskurses erhielt.
Es stellte sich jedoch bald heraus, dass sich die meisten dieser Vorüberlegungen als unnötig erwiesen, da unsere Gruppe mit ca. 13 Leuten relativ überschaubar war und sich bald ein gewisser Konsens darüber abzuzeichnen schien, was wir wollten. Es schien somit nicht nötig, allzu viele Vorkehrungen zu treffen. Wir einigten uns daher darauf, zunächst einmal eher informell loszulegen und situativ zu entscheiden, ob wir gewisse meiner Vorschläge nachträglich noch einführen wollten. Offensichtlich waren einige der Vorschläge auch zu abstrakt, als dass ihr euch etwas darunter hättet vorstellen können, wie sie das Gespräch beeinflussen würden. Daher wurde auch der Wunsch geäussert, dass ich mir als Veranstalter beim nächsten Mal die Feiheit herausnehme, jene Elemente, an denen mir was liegt, gar nicht erst zur Diskussion zu stellen, sondern einfach als gegebene Regeln einzuführen. Mach ich.

Nach diesem metadiskursiven Vorspiel, ging es darum, dass wir uns auf eine erste Fragestellung einigten. Zur Auswahl standen folgende Themen:

1. Was bedeutet radikales Denken?
2. Wo findet die Befreiung ihre Grenzen?
3. Worin liegt die Wahrheit der Logik?
4. Existiert die Zeit? Kann etwas unabhängig von der Zeit (oder vom Raum) exisitieren?
5. Was verstehen wir unter Menschlichkeit angesichts dessen, wozu die Menschen häufig in der Lage sind?

Das äussert komplexe Entscheidungsverfahren ergab den Ausschlag für das erste Thema, das ich folgendermassen ausformuliert hatte:

hirnblutung hört auf den Untertitel “Freistilphilosophie konkret krass”. Der Titel soll Programm sein. Was hat man sich unter radikalem Denken vorzustellen? Worum geht es, was sind seine Motivation/Ziele? Worin besteht es, wodurch zeichnet es sich gegenüber anderem Denken aus? Was setzt es voraus? Und was sind seine möglichen Konsequenzen? Etc.

Das erste Statement versuchte die Formulierung etymologisch anzugehen und das spezifische Merkmal radikalen Denkens daran festzumachen, dass es mit seinem Fragen zu den Wurzeln geht, indem es selbst noch so selbstverständliche und grundsätzliche Überzeugungen hinterfragt und dabei auch nicht davor zurückschreckt, unangenehme Einsichten in Kauf zu nehmen oder sich mit seinen Erkenntnissen ins gesellschaftliche Abseits zu bewegen. Eine weitere Stellungnahme strich dem gegenüber eine eher negative Seite dieses kompromisslosen Charakters des radikalen Denkens hervor, indem darauf hingewiesen wurde, dass das radikale Denken häufig dahin gelangt, radikale Positionen einzunehmen und damit eine dogmatisch-fundamentalistische Intoleranz gegenüber abweichenden Auffassungen zu entwickeln. Daraufhin wurde die Gefahr angesprochen, inwiefern radikales Denken dazu führen kann, die radikal Denkenden in soziale Isolation zu führen, wenn ihre Positionen sich zu sehr vom common sense entfernten. Während einige diese Folgerung von der intellektuell-theoretischen zur sozialen Normabweichung offensichtlich im radikalen Denken angelegt sahen, gab es auch das entgegen gesetzte Votum, dass sich das Denken vom sozialen Verhalten einer Person unterscheiden liesse, weshalb radikales Denken nicht notgedrungen zu gesellschaftlicher Randständigkeit führen müsse. In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage, wie radikales Denken mit radikalem Handeln zusammen hängt. Tendenziell schien der Konsens dahin zu gehen, dass es einen entscheidenden Unterschied ausmache, ob jemand den Schritt vom radikalen Denken zum Handeln ginge und sich damit auf die Risiken der – insbesondere gesellschaftlichen – Konsequenzen, sei es als weitreichende soziale Umwälzungen oder als persönlich erlittene Sanktionierungen, einliess (Nicht diskutiert wurde die Frage, inwiefern radikales Denken nicht schon immer radikales Handeln ist, insofern als Denken selbst ein Handeln ist). Es wurde zudem betont, dass radikales Handeln seinerseits kein radikales Denken zur Voraussetzung haben müsse.

Die Diskussion drehte sich relativ lange um die Frage, inwiefern radikales Denken darin besteht, intellektuelle Grenzen zu überschreiten. Dabei blieb lange unklar, was eigentlich mit diesen Grenzen gemeint war. Die vorherrschende Sichtweise betrachtete die zu überschreitenden Grenzen vor allem als Denktabus, die ihren Grund in sozialen Konventionen haben, letzlich also die ideologischen Dogmen bzw. die Orthodoxie einer Gesellschaft. Radikales Denken zeichnet sich demgemäss dadurch aus, nicht davor zurück zu schrecken, unkonventionell und gegen den common sense zu denken. Daher schien es für die meisten Anwesenden plausibel zu sein, dass radikales Denken, sofern es öffentlich und wirksam wird, zu gesellschaftlichen Veränderungen führt.

Das Überschreiten von Grenzen wurde aber relativ ambivalent wahrgenommen. Zum einen, da bezweifelt wurde, dass jeder Grenzübertritt ein Fortschritt bedeutet, und es auch fraglich schien, inwiefern die Grenzüberschreitungen in der Realität lebbar waren (gemäss der stillschweigenden Voraussetzung, dass die Grenzen im Alltag einen pragmatischen Zweck erfüllen). Zum anderen blieb der Grenzbegriff problematisch, weil unklar war, wie weit man denkend Grenzen überschreiten kann und ob es für das Denken nicht überwindbare Grenzen gibt. Da letzeres anzunehmen ist, wurde die methodische Unterscheidung zwischen konventionellen und absoluten Grenzen vorgeschlagen. Damit verschob sich jedoch die Frage nach den Grenzen der Grenzüberschreitung bloss auf die Frage, wann man es mit einer absoluten Grenze zu tun hätte. Indem die Frage aufgeworfen wurde, ob das Denken der Grenze nicht auch schon ihr Überschreiten bedeute, streiften wir im Vorbeigehen noch schnell die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung Hegels mit Kant… Eine andere Sichtweise brachte die Annahme ins Spiel, dass radikales Denken vielleicht auch darin bestehen könnte, selber eigene Grenzen zu setzen.

Die Erörterung zum Verhältnis von radikalem Denken und Grenzüberschreitung schien sich leer zu laufen und es wurde eingewandt, dass das Überwinden von Grenzen noch keinen Selbstzweck abgibt. Es wurde daher die Frage nach der Motivation und der Zielsetzung radikalen Denkens laut. Mein Vorschlag ging dahin, dass radikales Denken sich in besonderem Mass der Wahrheit verpflichtet fühlt, weshalb es andere Gesichtspunkte, insbesondere pragmatische, in den Hintergrund treten lässt. Dagegen wurde eingewandt, dass auch schon blosse Neugier genügen könnte, sofern jemand die Disposition zum radikalen Denken mitbrächte. Diese Disposition bestünde dann darin, relativ frei von Dogmen und Denkschemata denken zu können. Eine solche Befähigung zum freien Denken könnte auch das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses sein, den jemand in einem liberalen Milieu (bspw. Künstlerfamilie) mitmacht.

Um die Motivation radikalen Denkens besser nachvollziehen zu können genüge es wohl nicht, sich auf das skeptizistische Moment des Infragestellens zu konzentrieren, sondern man müsse den Fokus eher auf den Aspekt des freien und neue Assoziationen erlaubenden Denkens legen. Dann liesse sich der Skeptizismus und das Überschreiten von intellektuellen Grenzen als Ermöglichungsbedingung für noch Ungedachtes und Neues auffassen, da es erst den Freiraum schafft, in dem man auf andere Gedanken kommen kann (ob diese dann wieder neue Grenzen setzen, blieb offen). Wahrhaftigkeit könnte jedoch ebenfalls zu einer solchen Disposition beitragen.

Die Auseinandersetzung wandte sich wieder der Grenzthematik und jener nach den Konsequenzen zu, wobei weiterhin Konsens darüber zu bestehen schien, dass radikales Denken auch radikale inhaltliche Positionen nach sich zu ziehen schien. Gegen den naheliegenden Vorwurf des intoleranten Fundamentalismus versuchte ich daher geltend zu machen, dass radikales Denken nicht notwendig gleichbedeutend mit radikalen Positionen sei und erst recht nicht das doktrinäre Vertreten solcher Standpunkte impliziere. Denn da radikales Denken dadurch gekennzeichnet sei, dass es unablässig intellektuelle Dogmen in Frage stelle, müsse es dies auch in Bezug auf sich selbst tun, weshalb es besser als ein dynamischer Prozess respektive eine Handlungsweise zu verstehen sei, die zu keinem definitiven Abschluss gelangen könnte, wie dies bei radikalen Ideologien der Fall ist. Das Paradox, ob sich selbst treues Denken eine Intoleranz gegenüber dem Nichtdenken entwickelt, blieb damit jedoch bestehen.

Da wir thematisch wieder an den Anfang der Auseinandersetzung gelangten und da die Zeit schon fortgeschritten war, beendeten wir die Diskussion mehr oder weniger an dieser Stelle.

Phuuhhh! Das ist jetzt aber lang geworden und hat auch eine Weile gedauert. In Zukunft machen wir das anders, vielleicht ein bisschen weniger seriös und anstrengend… Hoffe, das entspricht euren Vorstellungen. Wer noch Ergänzungen beizutragen hat, kann dies hier tun:

http://hirnblut.elenchos.ch/?p=35

Und unter dieser Adresse findet ihr, was Nanina Egli zum Abend meint. Sie war etwas schneller als ich, aber vielleicht hatte sie es ja auch etwas leichter…
http://nanina.nzzcampus.ch/lebensstil-liebesleben/radikales-denken.html

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2 Kommentare

  1. Grossartige Zusammenfassung! Wau. Ziemlich wertvoll, da sie unser Gespräch in einen vielleicht nicht immer für alle während der Diskussion ersichtlichen Konsens stellt und somit diesen Abend noch einmal anders erfahrbar macht. Gruss

  2. Bin beeindruckt über:
    1. den Service einer Zusammenfassung
    2. die Genauigkeit (die ich mal selbstredend und optimistisch annehme)
    und
    3. das zeitlich rasche Handeln des Schreibenden.

    Als zum Zeitpunkt von Hirnblutung 800km weit weg Weilende und deshalb als Absenzlerin zu bezeichnende wurzelschlagende, wurzelausgrabende und zuweilen wurzelabschneidende Frau freut mich diese Form von Orientierung
    sehr.

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