Die Geisteswissenschaften werden gebraucht, um die Welt neu zu denken. Doch dafür müssen sie mutiger werden.

Immanuel Kant und seine Definition von Aufklärung aus dem Jahr 1784.
Illustration: Katharina Gschwendtner für DIE ZEIT
Vor einigen Jahren wurde ein Freund von mir Mitglied einer interdisziplinären, überwiegend aber geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsgruppe an einer sehr renommierten Institution. Die Gruppe wurde mit rund einer Million Euro gefördert. Am Abend nach der Eröffnungskonferenz saßen die Fellows beim Wein zusammen, und als es richtig gemütlich zu werden begann, fragte mein Gewährsmann in die gehobene Stimmung hinein, wie man denn dem Steuerzahler gegenüber rechtfertige, dass die Gruppe sich nun für ein Jahr unter höchst komfortablen Bedingungen Gedanken machen durfte. Schallendes Gelächter. Er hatte das aber gar nicht als Witz gemeint.
Als er auf seiner Frage beharrte, zogen die Kolleginnen und Kollegen deren Legitimität in Zweifel und entlarvten ihn gleich als neokonservativen Verwertungsfetischisten. Dann nahmen sie die klassische Gegenposition ein: dass die Gesellschaft ihre Forschung auch dann zu finanzieren habe, wenn diese keinen sichtbaren Nutzen abwerfe. Schließlich arbeite man ja an der Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst, und die sei ja wohl kaum in Zahlen zu messen. Als ich diese Geschichte erzählt bekam, keimte in mir zum ersten Mal der Verdacht, dass man in Zukunft die Geistes- und Kulturwissenschaften eher gegen sich selbst als gegen ihre Angreifer verteidigen müsse.
Denn dieses »Wir sind an sich wichtig«-Argument wird immer eingesetzt, wenn man die Existenz von Geistes- und Kulturwissenschaften zu verteidigen meint, und es stimmt nie. Natürlich kann man, was Geistes- und Kulturwissenschaftler tun, auch in Zahlen ausdrücken. Zum Beispiel erzeugt allein die Kulturwirtschaft – also Galerien, Agenturen, Verlage, Theater et cetera – in Deutschland jährlich eine Wertschöpfung von 35 Milliarden Euro, womit sich dieser volkswirtschaftliche Sektor knapp vor der Software-Industrie und knapp hinter der Energiewirtschaft einreiht. In den USA sind mittlerweile 30 Prozent aller Beschäftigten in den sogenannten creative industries tätig – worunter Medien, Kunst, Bildung, Wissenschaft, Informationstechnologie und Management zählen. Die Metropolen und Regionen, die sich am schnellsten entwickeln, weisen einen gemeinsamen Standortfaktor auf: Ein hochklassiges und liberales kulturelles Klima, und man muss nur an Pisa oder den Erfolg privater Schulen und Universitäten denken, um zu sehen, dass es die Kultur einer Institution ist, die ihre Ausbildungserfolge bestimmt.
Man muss also längst nicht mehr die Selbstaufklärungsbedürfnisse von Gesellschaften und die selige »Unvermeidbarkeit der Geisteswissenschaften« bemühen, um deren Legitimation unter Beweis zu stellen. Sie sind nämlich ohnehin ein immer wichtiger werdender Teil des produktiven Betriebs einer funktional differenzierten modernen Gesellschaft und leisten einfach unverzichtbare Arbeit. Deshalb verspüren sie im Augenblick starken Rückenwind, nicht nur auf der symbolischen Ebene des »Jahres der Geisteswissenschaften«, sondern auch auf der handfesten Ebene der Förderung, wie sie etwa von der Initialzündung »Pro Geisteswissenschaften« ausging, die sich Volkswagen-, Thyssen- und ZEIT-Stiftung sowie der Stifterverband der deutschen Wissenschaft schon 2005 ausgedacht haben.
Man erkennt an solchen Initiativen ebenso wie an den erheblichen zusätzlichen Fördermitteln, die von diesem Jahr an für die Geistes- und Kulturwissenschaften ausgegeben werden, dass unsere Gesellschaft deren Leistungen in Anspruch nehmen möchte. Inzwischen sieht man in sehr vielen Bereichen – ob es um corporate social responsibility, um Völkerstrafrecht, um Gerontopsychiatrie oder um creative cities geht –, wie wenig andere Disziplinen heute auf die Arbeit der Geistes- und Kulturwissenschaften verzichten können. Praktisch sind sie also wichtiger denn je, aber ihr Selbstbild hinkt der Wirklichkeit hinterher. Die überfällige Abkehr vom Image der verwertungsfernen Reflexionsmandarine würde den Blick frei machen für das, was sie tatsächlich tun, die Geistes- und Kulturwissenschaften – und irgendwann käme dann auch niemand mehr auf die Idee, Slogans wie »Geisteswissenschaften – Abc der Menschheit« zu erfinden.
Denn die menschlichen Orientierungsmittel wie Sprache, Zeit und Internet werden ja nicht von Kulturwissenschaftlern erfunden; genauso wenig wie Geisteswissenschaftler Geist erzeugen. Ihre Disziplinen erforschen lediglich solche geistigen, sozialen und kulturellen Orientierungsmittel und erläutern, welche gesellschaftliche oder historische Funktion sie haben. Da mag man an das Buch des Philosophen Michael Pauen über die Konsequenzen der Hirnforschung denken oder an die Studie der Juristin Cornelia Vismann über Die Akte, man denke daran, wie der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in seinen Büchern den Kunstbetrieb filetiert oder an Valentin Groebners Geschichte des Ausweispapiers. Man denke an die philosophische Aufklärungsarbeit eines Kurt Flasch oder an Ferdinand Sutterlütys Studien zu heutigen Gewaltkarrieren – um diese analytische und vermittelnde Kompetenz geht es, wenn heute ein stärkeres Gewicht der Kulturwissenschaften an den Universitäten und in der Forschungsförderung gefordert wird. Und längst nicht mehr um antiquierte Vorstellungen wie die, dass Geistes- und Kulturwissenschaftler hauptsächlich Exegese und Editionen unbedeutender Neukantianer betreiben. Weltentrücktes Schriftenstudium in verstaubter Gelehrtenstube stellt heute bloß noch den Pappkameraden, auf den mit dem Nützlichkeitsargument eingedroschen werden kann.
Geistes- und Kulturwissenschaften schaffen Transparenz unter komplexen Bedingungen, stellen also orientierendes Wissen bereit, was besonders junge Menschen interessant und wichtig finden, wie sich an den stetig steigenden Studierendenzahlen ablesen lässt. Da braucht man auch nicht lange nach verborgenem gesellschaftlichen Bedarf zu fahnden: Man kann ja mal nach arbeitslosen Sinologen suchen, seit es in China boomt, oder nach Politologinnen, die in governance ausgewiesen sind. Philosophen, die sich mit Unternehmensethik befasst haben, sind genauso gefragt wie Sozialwissenschaftlerinnen, die sich mit interkultureller Kommunikation auskennen.
Schon diese kurze Liste deutet an, dass den Geistes- und Kulturwissenschaften zugleich mehr gesellschaftliche Verantwortung zuwächst. Der werden sie sich in Zukunft immer weniger entziehen können, weil sich mit der Globalisierung die Handlungsketten verlängern und Entscheidungsfolgen weit entfernt von ihren Verursachern auftreten. Der wachsende Druck, dem sich Unternehmen heute durch NGOs ausgesetzt sehen, spricht da eine deutliche Sprache. Dies wäre dann allerdings auch die Stelle, an der man vor allem den jüngeren Vertreterinnen und Vertretern der Kulturwissenschaften mehr zeitgerechten Unmut verordnen möchte: Schließlich hat die Gesellschaft bezahlt für die Entwicklung ihrer Kompetenz, mit Nachdruck auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen, und leider nehmen sie diese Aufgabe zu wenig wahr, paradoxerweise vielleicht gerade deswegen, weil sie immer noch zu eng in das Rollenkorsett der verwertungsfernen Aufklärer eingeschnürt sind.
Allerdings gibt es einige gravierende Außenweltfaktoren, die es den Geisteswissenschaften in den vergangenen Jahren auch schwer gemacht haben, ein neues und stabiles Rollenverständnis zu finden. Die Illusion, die Geistes- und Kulturwissenschaften seien eine Avantgarde, die mehr von gesellschaftlicher Entwicklung verstünde als die Natur- oder Ingenieurwissenschaften, hat sich 1989 im unvorhergesehenen Untergang des Ostblocks blitzartig aufgelöst; alle sozialwissenschaftlichen Fächer stehen bis heute unter diesem Schock, und zwar so sehr, dass sie nicht einmal die nachhaltigen Transformationen zureichend beschreiben, die auch die Lebenswelt der westlichen Gesellschaften gegenwärtig so tiefgreifend verändern.
Diese analytische Ladehemmung liegt aber auch darin begründet, dass die Nationalstaaten, die die Geisteswissenschaften überhaupt erst hervorgebracht haben, im Verschwinden begriffen sind – kein Wunder, dass diese unter Bedingungen der Globalisierung Schwierigkeiten haben, eine neue Rolle zu finden. Und im globalen Zeitalter haben sich überdies die Ursachen für gesellschaftliche Probleme radikal gewandelt: So haben wir von Jared Diamond, von Hause aus Geograf, gelernt, dass heute die zentralen zwischenstaatlichen Konflikte in Regionen mit den größten ökologischen Problemen zu beobachten sind.
Das heißt, das Zeitalter der kalten Kriege und Systemkonkurrenzen ist vorerst vorbei; worum es nunmehr in einer eigentümlichen Wendung der Geschichte geht, sind heiße Raum- und Ressourcenkonflikte, und die werden in den nächsten Jahrzehnten fundamentale Auswirkungen auf die Gestalt unserer Gesellschaft haben. Was wir gegenwärtig als »Klimawandel« bezeichnen, wird die größte soziale Herausforderung der Moderne sein – insbesondere deshalb, weil die Frage unausweichlich wird, wie mit den Massen von Flüchtlingen zu verfahren sein wird, die dort, wo sie herkommen, nicht mehr existieren können und an den Überlebenschancen in den privilegierten Ländern teilhaben möchten.
Aus der Völkermordforschung wissen wir, wie schnell die Lösung sozialer Fragen in radikale Definitionen und tödliche Handlungen übergehen kann, und so etwas abzuwenden wird eine Probe darauf sein, ob Gesellschaften aus der Geschichte lernen können oder nicht. In der Konsequenz würde eine praktische Einsicht in die Notwendigkeit der Abwehr der schlimmsten Folgen des ökologischen Wandels eine globale Kultur der Partizipation erfordern, die heute noch ganz undenkbar scheint, aber dringend gedacht werden muss.
Überhaupt wird man den Geistes- und Kulturwissenschaften zumuten müssen, ihren Gegenstand breiter zu definieren als bislang: Denn die Neurowissenschaft hat uns darüber belehrt, dass die menschliche Gehirnentwicklung erfahrungsabhängig, also kulturell spezifisch verläuft, weshalb sich im humanen Bereich die Seinsbereiche der Natur und der Kultur überhaupt nicht trennen lassen. Vor diesem Hintergrund müssen sich die Kulturwissenschaften vermehrt der Mühe unterziehen, sich jene Befunde der Naturwissenschaften zunutze zu machen, die ihnen helfen, Gesellschaften angemessener zu beschreiben: also zu verstehen, wieso Menschen besser als Teil von Netzwerken zu begreifen sind denn als Individuen, dass Bodenerosion alsbald soziale Erosion nach sich zieht, was Emotionen sind und wie sie unter kulturellen Einflüssen modernisiert werden oder was die biosozialen Bedingungen für das weitere Überleben des Homo sapiens sapiens sind. Dessen machtvollste Überlebenstechnik besteht einstweilen darin, dass sein Bewusstsein und sein Gedächtnis ihm jenen unendlichen Raum zwischen Anforderung und Bewältigung eröffnet haben, den wir Kultur nennen.
Auf diesen Raum kommt es also an, und die Geistes- und Kulturwissenschaften werden ohne eine Öffnung ihres Gegenstandsbereiches nicht in der Lage sein, jene verantwortliche Rolle einzunehmen, die ihnen angesichts radikal neuer gesellschaftlicher Probleme zukommt: Sie produzieren von jeher keine Geräte, Gebäude, Fahrzeuge und Kraftwerke, sondern Kommentare, Analysen, Ideen und Geschichten. Solche Geschichten konnten, wie das 20. Jahrhundert gezeigt hat, von ungeheurer destruktiver Kraft sein, aber manchmal sind sie auch – was etwa die Geschichte der Menschenrechte angeht – von erheblicher zivilisatorischer Wirkung. Was uns durch den Erkenntnisschock von 1989 abhanden gekommen ist und was uns die Scheinpragmatiker in den ökonomischen und politischen Eliten zu erfolgreich ausgeredet haben, ist die alles entscheidende Frage: Wie wollen wir leben? Diese Frage stellt sich gerade unter den Bedingungen eines weltumspannenden ökologischen Wandels und einer globalisierten Klassengesellschaft, in der weder eine Umwelt- noch eine Sozialpolitik zukunftsfähig sein kann, die nationalstaatlich gedacht wird. Insofern wird das neue Rollenverständnis der Geistes- und Kulturwissenschaften auch vitalisieren müssen, was zu lange abgelebt schien: den Begriff des Politischen.